Katja Petrowskaja (2022), Das Foto schaute mich an.

Berlin: Suhrkamp. 256 Seiten. ISBN 978-3-518-22535-6. Vorgestellt von Ingvild Folkvord, Trondheim/Norwegen, und Brian Cliff Olguin, Oslo/Norwegen (Zielsprache Deutsch, Ausgabe 2023/3)

Cover Das Foto schaute mich an

Arbeit war Frieden, und der Krieg absurd (7)

Katja Petrowskajas neuestes Buch steht ganz im Zeichen des Krieges in der Ukraine. Das Buch beginnt mit der Großaufnahme eines rauchenden Bergmanns aus dem Donbas. Er bläst uns als Lesenden fast den Rauch in die Augen, und Kat- ja Petrowskaja vergleicht seinen Blick mit dem strengen Blick von Ikonen: Sie nehmen uns gefangen, ob wir an sie glauben oder nicht. Das Bild stammt aus dem Jahr 2014, aufgenommen von der Fotografin Yevgenia Belorusets, es wur- de später auf der Biennale in Venedig ausgestellt. Petrowskaja beschreibt de- tailliert, wie das Foto sie selbst berührt, spricht aber auch über die Bergleute, die soziale Situation, ihr Durchhaltevermögen und ihren Widerstand. Sie gin- gen einfach weiter zur Arbeit, obwohl sie seit vielen Monaten nicht mehr be- zahlt wurden. Das war, nachdem russische Truppen in den Donbas geschickt worden waren, und sie machten weiter, denn „Arbeit war Frieden, und der Krieg absurd“ (7).

Die Sammlung von Prosaminiaturen „Das Foto schaute mich an“ ist Katja Petrowskajas zweite Buchveröffentlichung. Die Autorin ist selbst Ukrainerin, wuchs in Kiew mit Russisch als Muttersprache auf, schreibt aber auf Deutsch. Und wie die Bergleute im Donbas arbeitet und schreibt sie weiter, hier aber in einem anderen Genre als zuvor. In ihrem von der Kritik hochgelobten Debüt- roman „Vielleicht Esther“ aus dem Jahr 2014 setzte sie sich mit ihrer eigenen Familiengeschichte auseinander und damit, wie der Krieg und die Vernich- tung der Juden die Nachkommen derer geprägt haben, die Opfer der Natio- nalsozialisten wurden.

Dieses Buch besteht aus Essays, die ursprünglich einzeln in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung veröffentlicht worden waren. Jedem Text liegt ein Foto zugrunde, wobei Petrowskaja auf unterschiedliche Weise auf die Bilder gestoßen ist. Einige hat sie selbst aufgenommen, andere hat sie in Kunstaus- stellungen, Familienalben, Büchern und Archiven gefunden.

Das Schreibprojekt ist aus einer persönlichen Krise entstanden, erklärt sie. Die Nachricht von der russischen Invasion der Krim im Jahr 2014 machte es ihr unmöglich, in den ihr vertrauten Formaten weiterzuarbeiten:„Damals habe ich angefangen, über Fotos zu schreiben aus Ohnmacht vor der Gewalt [...] Und es waren die Fotografien, die das Unausgesprochene ersetzten, die das Frag- mentarische boten, Möglichkeiten der Stille und Schönheit schufen“ (247).

Insgesamt sind es 57 Texte und ebenso viele Bilder. Wir werden auf eine his- torisch reflektierte und ästhetische Entdeckungsreise mitgenommen, die zeigt, dass die Kraft der Fotografie nicht nur in ihrem dokumentarischen Wert liegt, sondern mindestens ebenso sehr in ihrer Fähigkeit, Assoziationen zu wecken und Erfahrungen und Interpretationen zu eröffnen. Fotografie kann provozie- ren, so wie die Lesenden die Autorin Petrowskaja provoziert erleben – durch gut komponierte Bilder, die den Krieg als natürlichen Prozess darstellen, „als wäre der Feldzug eine Jahreszeit im Kreislauf der Natur“ (201). Ihre Kritik rich- tet sich an den Fotografen, in diesem Fall an den deutschen Wehrmachtssol- daten Dieter Keller (1909-1985): Keller dokumentierte den Krieg der Nazis in der Ukraine mit einem ästhetisierenden Blick, ohne sich des Leidens der Op- fer und der Tatsache bewusst zu sein, dass es seine Kameraden waren, die für die Gräueltaten verantwortlich waren.

Zertrenes Land. Dieter Keller, Ukraine 1941/42
Zertretenes Land

Dieter Keller, Ukraine 1941/42

© Zielsprache Deutsch

Sie kritisiert aber auch die Verlage, die den Blick des Kriegsfotografen roman- tisieren, über seine Gedanken fantasieren. In Wirklichkeit übernehmen sie„die Eroberer-Perspektive“, argumentiert Petrowskaja (200).

An anderer Stelle zeigt sie, wie die Fotografie die Vorstellungskraft und die Fantasie auf eine Weise anregt, die die Welt für Wahrnehmungen zugänglich macht und uns erlaubt, sie zu lesen. Die ausgewählten Fotografien faszinie- ren durch ihre Magie, wie etwa das Bild von der sowjetischen Babuschka aus den 1980er Jahren, verblasst und in Sepiatönen. Sie ist vielleicht Anfang sech- zig und sitzt in einem Skilift, allerdings ohne Skier. Hoch oben, mit Mantel und Rock, Handtasche und Schal, schwebt sie davon und löst bei der Autorin Asso- ziationen aus – fliegende Hexen, Mary Poppins und „Lucy in the sky with dia- monds“ von den Beatles. Vor allem aber ist sie für Petrowskaja eine Mutterfi- gur, selbstbewusst, mutig,„dieses Rückgrat der sowjetischen Kindererziehung“ (32). Die Reflexion über die Mutterfigur und über die Rolle und die Darstellung der Frauen im weiteren Sinne ist ein wiederkehrendes Thema, wie auch in ih- rem Familienroman von 2014.

Babuschka im Himmel.

Unbekannter Fotograf, aus dem Moskauer Familienarchiv von Anna Oborina

© Zielsprache Deutsch
Kindheit verkehrt

Kindheit verkehrt. Bogdan Zholdak, 1974

© Zielsprache Deutsch

Eines der alltäglichsten Bilder zeigt die Autorin selbst als Dreijährige mit ihrem Vater. Ein solches Bild findet sich in jedem Familienalbum, doch Petrowskaja ist schockiert über ein kleines Detail: Sie zeichnet mit ihrer linken Hand, obwohl sie Rechtshänderin ist. Könnte es sein, dass das Bild etwas dokumentiert, das ihr verborgen geblieben ist? Das Foto bringt sie auf die Idee, dass sie in ihrer Kindheit unter dem sowjetischen Regime in die Reihen der Rechtshänder ge- zwungen worden sein könnte, wo sie doch eigentlich zu einer kleinen, exklu- siven Gruppe von Linkshändern gehören sollte, von denen es im Westen selt- samerweise viel mehr gibt. Ihre Lektüre wird durch den scharfen Blick ihres Va- ters unterbrochen: „Schau mal, mein Ring ist an der linken Hand“ (53), sagt er, der seinen Ehering immer an der rechten Hand getragen hat. Es stellt sich he- raus, dass das Bild seitenverkehrt ist, und Petrowskaja lässt zu, dass ihre eige- ne Fehlinterpretation eine neue Sicht auf das Bild eröffnet. Jetzt zeigt es sie, Vater und Tochter, in einem dieser seltenen Momente der Ruhe.

Die Auswahl der Bilder ist breit und vielfältig: Porträts, wie das Foto des Bergmanns, Familienfotos, Polaroids von Filmstars, historische Aufnahmen europäi- scher Städte und Dörfer, kanonisierte Bilder aus der Geschichte der Fotografie und verschiedene Arten zeitgenössischer Fotografien. Von Petrowskaja selbst aufgenommene Bilder und die Fotografien von Größen wie Josef Koudelka, So- phie Calle und Robert Frank stehen nebeneinander, und es geht nicht darum, sie zu klassifizieren, wichtig ist, was die Bilder tun. Wenn Petrowskaja sich mit kanonisierten Fotografien wie Robert Franks „Trolley, New Orleans – 1955“ be- schäftigt, vermittelt sie den Kontext, was Franks fotografisches Projekt war, wie er verstanden wurde, aber es geht immer auch darum, wie die Bilder auf uns heute wirken. Warum wirkt Franks gut komponiertes Bild dieses Busses, in dem Schwarze und Weiße getrennte Plätze haben, so erstaunlich nostalgisch? Liegt es daran, dass die Bürgerrechtsbewegung, ihr Aufbruch, so sehr der Vergangen- heit angehört? (167)

Dieses Buch handelt nicht von dem Krieg in der Ukraine, schreibt Petrowskaja, sondern es ist„vom Krieg umklammert“ (247). Was auffällt, ist die Erfahrung der Zeit selbst, wenn man einigen der historischen Bilder begegnet und damit im- mer wieder daran erinnert wird, dass der Krieg in Europa nicht hinter uns liegt. Am deutlichsten wird dies vielleicht bei der Begegnung mit Kellers Fotografien vom ukrainischen Landleben im Jahr 1942, aber auch die historischen Bilder vom Maidan in Kiew und eine Reihe anderer Fotografien werden mit einem starken Bewusstsein für die Präsenz des Krieges in Europa gelesen. Es ist, als ob dies die Art und Weise verändert, wie wir etwas betrachten, das wir zu kennen glaubten. Der Zweite Weltkrieg blickt uns jetzt auf eine andere Weise an.

Sowohl der Familienroman aus dem Jahr 2014 als auch dieser Band mit Bil- dern und Texten aus dem Jahr 2022 sind eine literarische Auseinandersetzung mit der Gegenwart und der Vergangenheit, an der die Autorin und ihre Familie teilhaben. Wenn Petrowskaja über das Bild des von Bomben zerstörten Maidan von 1943 schreibt, erzählt sie, wie ihre eigene Mutter 1944 nach dreieinhalb Jahren auf der Flucht mit ihrer Mutter und ihrer Schwester nach Kiew zurück- kehrte. „Wären sie in Kiew geblieben, hätten sie die Besatzung nicht überlebt“ (15), sagt sie und sucht auf dem vergilbten Schwarz-Weiß-Foto des zerstörten Kiews nach einem kleinen Kind. Wenn man genau hinschaut, kann man eine kleine Figur erkennen – ist es die Mutter oder ein anderes kleines Kind? Pe- trowskajas Lesarten sind historisch präzise und offen, eine experimentelle Er- kundung der Art und Weise, wie Bilder uns ansehen – und wie wir uns darin üben können, mehr zu sehen.

Anschrift der Rezensent:innen

Prof. Dr. Ingvild Flokford
Asbørnsensgate 36 A
7052 Trondheim, Norwegen
ingvild.folkvord@ntnu.no

Brian Cliff Olguin
Ringgata 2E
0577 Oslo, Norwegen
brian.olguin@gmail.coim

(Der Text wurde am 13.08.2022 auf Norwegisch in der Zeitung Klassekampen veröffentlicht)