Was wir machen: Wissenstransfer & Praxis
Die IFM möchte wissenschaftliche Erkenntnisse mit ihren Aktivitäten in die Praxis tragen.
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Zum Einfluss der Familie auf den Spracherwerb der KinderVerfasst von David Mathieu, B.A.
Diskutierter Beitrag:
Cantone, K. F. (2019). Language exposure in early bilingual and trilingual acquisition. International Journal of Multilingualism, 19(3), 402–417. https://doi.org/10.1080/14790718.2019.1703995
Deutschland weist aktuell eine moderne, migrationsgeprägte Gesellschaftsstruktur auf. Das bedeutet auch: In vielen Familien haben die Eltern, auch wenn sie bereits mit der deutschen Sprache aufgewachsen sind, darüber hinaus noch eine oder mehrere andere Erstsprachen. Es stellt sich also die Frage, wie die wertvolle Ressource der Mehrsprachigkeit erhalten werden kann: Welchen Einfluss hat die Familie darauf, dass Kinder zwei oder mehrsprachig aufwachsen? Mit dieser Frage beschäftigt sich eine Studie der Sprachforscherin Katja Cantone (2019) von der Universität Duisburg-Essen.
Im Rahmen dieser Studie wurden 6 Kinder bis zum Ende des dritten Lebensjahrs untersucht, in deren Familien beide Eltern mit der deutschen Sprache aufgewachsen sind und zudem mindestens ein Elternteil eine weitere Erstsprache hat. Es stellt sich heraus, dass die Menge an Input, den die Kinder in den Sprachen der Eltern jeweils erhalten, zwar ein wichtiger Faktor ist, aber keinen so eindeutigen Einfluss auf die Mehrsprachigkeit der Kinder hat, wie man es vielleicht intuitiv erwarten würde. Unter Bezugnahme auf andere Studien erklärt Cantone, dass eine Sprache zwar eventuell ein Minimum von 20% im gesamten Sprachinput einnehmen muss, um erworben zu werden, weist aber gleichzeitig auf die Möglichkeit hin, dass Kinder trotz geringeren Inputs lernen können, Sprachen zu verstehen, auch wenn sie diese nicht aktiv sprechen.
Ein weiteres Ergebnis der Studie von Cantone ist aber auch, dass die Allgegenwärtigkeit der Umgebungssprache Deutsch den Erhalt der anderen Elternsprachen langfristig beeinträchtigen kann. So haben in einigen der untersuchten Familien beide Eltern neben dem Deutschen eine weitere Erstsprache (und zwar nicht die gleiche), beherrschen aber jeweils diese zusätzliche Sprache der Partnerin bzw. des Partners nicht, sodass sie miteinander auf Deutsch kommunizieren. Obwohl diese Eltern die Strategie verfolgten, im Einzelgespräch mit den Kindern ihre jeweilige zusätzliche Erstsprache (nicht Deutsch) zu sprechen, werden Cantone zufolge die Kinder mit zunehmendem Alter immer mehr in Familiengespräche einbezogen, wo nur Deutsch als für alle verständliche Sprache möglich ist. Und natürlich wächst auch der Einfluss von Kontakten außerhalb der Familie in der Umgebungssprache Deutsch.
Weiterhin stellt Cantone fest, dass Großeltern einen entscheidenden Einfluss auf den Spracherhalt haben. Der Einfluss älterer Geschwister erwies sich in der Studie als ambivalent: Eine ältere Schwester förderte die Verwendung einer Herkunftssprache, ein älterer Bruder förderte die Verwendung der Umgebungssprache Deutsch. Außerdem kann das Prestige der Sprachen deren Erhalt beeinflussen.
Was bedeuten diese Ergebnisse nun für den Familienalltag und für Einrichtungen der Kinderbetreuung im frühkindlichen Alter? Cantone ermuntert in einer abschließenden Bemerkung ihres Beitrags Eltern dazu, ihre Kinder mehrsprachig zu erziehen, ohne die Angst, dass sich dies negativ auf den Erwerb der Umgebungssprache Deutsch auswirken könnte. Das passt auch zu den Studienergebnissen: Denn diese machen den starken Einfluss der Umgebungssprache deutlich, der sich vor allem mit zunehmendem Alter der Kinder automatisch ergibt und schließlich den Erhalt der anderen Familiensprachen sogar beeinträchtigen kann. Dementsprechend schlägt Cantone mehrsprachigen Eltern vor, eventuell die Inputzeiten für die einzelnen Sprachen festzuhalten, um ein Bewusstsein für Muster in der Sprachverwendung zu schaffen. Außerdem legen Cantones Ergebnisse sowie die Ergebnisse zweier anderer Studien, auf die sie Bezug nimmt (Quay 2001, 2008), nahe, dass es für Eltern sinnvoll sein kann, die weitere(n) Erstsprache(n) des anderen Elternteils zu erlernen, um Familiengespräche in allen Sprachen der Eltern zu ermöglichen und so das zwei- bis dreisprachige Aufwachsen der Kinder zu fördern. Im Hinblick auf Betreuungseinrichtungen wäre anknüpfend an Cantones Studie denkbar, für zeitlich begrenzte Aktivitäten Gruppen von Kindern zu bilden, die den gleichen oder zumindest einen ähnlichen familiensprachlichen Hintergrund haben, um die Verwendung der jeweiligen Herkunftssprachen zu fördern.
Was meinen Sie?
Zum Abschluss sind Sie gefragt: Lohnt sich die Entscheidung zur mehrsprachigen Kindererziehung? Wie handhaben Sie dies in Ihrer Familie und was sind Ihre Erfahrungen? Sollten Einrichtungen der Kinderbetreuung im frühkindlichen Alter Mehrsprachigkeit berücksichtigen und wie?
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Zum Weiterlesen:
[Studien mit ähnlichem Ansatz, auf die Cantone (2019) Bezug nimmt]
Chevalier, S. (2011). Trilingual language acquisition contextual factors influencing active trilingualism in early childhood. Habilitationsschrift: University of Zürich.
Quay, S. (2001). Managing linguistic boundaries in early trilingual development. In J. Cenoz & F. Genesee (Eds.), Trends in bilingual acquisition (pp. 149–199). Amsterdam: Benjamins.
Quay, S. (2008). Dinner conversations with a trilingual two-year-old: Language socialization in a multi-lingual context. First Language, 28(1), 5–33.
Zum dreisprachigen Wortschatzerwerb im Grundschulalter
Verfasst von David Mathieu, B.A.
Diskutierter Beitrag:
Zago, E. R. B., & Berthele, R. (2023). Trilingual children’s narratives: a longitudinal study of lexical development. International Journal of Multilingualism, 21(4), 2182–2197. https://doi.org/10.1080/14790718.2023.2232394
Infolge der Globalisierung und der damit einhergehenden individuellen Mobilität wurden und werden immer mehr Familien gegründet, in welchen die Kinder mit diversen Sprachenkonstellationen aufwachsen: Ein Elternteil, der gegebenenfalls selbst mehrsprachig ist, hat oft andere Erstsprachen als die Partnerin bzw. der Partner, und diese Sprachen wiederum unterscheiden sich eventuell von der Umgebungssprache. Daher gibt es immer mehr dreisprachig aufwachsende Kinder. Aber wie läuft das eigentlich ab? Wie lernen Kinder die Wörter in den drei Sprachen? Und welchen Einfluss hat die Schule? Diesen Fragen widmet sich eine Studie der Sprachwissenschaftler Elisabeth Reiser-Bello Zago und Raphael Berthele (2023) von der Universität Freiburg in der Schweiz.
Sie untersuchten drei Geschwisterpaare (insgesamt 6 Kinder) aus der Schweiz im Grundschulalter zu drei Zeitpunkten über drei Jahre hinweg. Alle Kinder wachsen dreisprachig auf, und zwar entweder mit den Sprachen Englisch, Französisch und Spanisch oder Deutsch, Französisch und Spanisch. Im Rahmen der Studie wurden die Kinder an den drei Untersuchungszeitpunkten aufgefordert, kurze Folgen der Animationsserie „Pingu“ in allen drei Sprachen nachzuerzählen. Im Fokus stand dabei die Entwicklung des Wortschatzes, gemessen an der Länge der Erzählungen, der lexikalischen Vielfalt und der Ausdrucksschärfe, d.h. der Fähigkeit der Kinder, möglichst treffende, seltener in einer Sprache vorkommende Wörter zu verwenden. Ein zentrales Ergebnis der Studie ist die beobachtete Tendenz, dass der Wortschatz der Kinder in allen Sprachen stetig vielfältiger und elaborierter wurde, besonders jedoch in der Sprache, die jeweils in der Schule verwendet wird. Die Schulsprache verwendeten die Kinder im Untersuchungszeitraum auch insgesamt am kompetentesten. Es gab dabei aber auch recht deutliche Unterschiede zwischen den einzelnen Kindern in Bezug darauf, wie stark diese Tendenz ausfällt: Die Wortschatzentwicklung erwies sich also als sehr individuell, sogar bei Geschwistern, die ja eigentlich einen vergleichbaren Spracheninput erhalten. Aus der Datenerhebung für das älteste Kind, einen Jungen, der zu Beginn der Studie 9 und zum letzten Messzeitpunkt 11 Jahre alt war, konnte schließlich eine weitere wichtige Erkenntnis gewonnen werden: Für die Verwendung aller Sprachen ist die Motivation entscheidend. Denn der Junge produzierte im Verlauf der Studie wider Erwarten und im Gegensatz zum Gesamtbild der übrigen Kinder immer kürzere Erzählungen und zeigte einen scheinbar immer weniger elaborierten Wortschatz. Gegenüber dem Forscherteam machte er dabei allerdings auch einen zunehmend gelangweilten Eindruck und äußerte explizit seine Ansicht, dass die nachzuerzählenden Videos etwas für jüngere Kinder seien.
Was bedeuten die Ergebnisse der Studie nun für den Familienalltag und für die Grundschule? Zunächst machen sie klar, dass Kinder, die dreisprachig aufwachsen, nicht alle drei Sprachen automatisch gleichmäßig erlernen: Sie wachsen nicht als "dreifache Einsprachige" auf. Außerdem verläuft der trilinguale Spracherwerb ganz individuell, sogar bei Geschwistern gibt es Unterschiede. Es scheint also wenig sinnvoll, mehrsprachige Kinder bezüglich des Erwerbs ihrer einzelnen Sprachen unter Druck zu setzen oder miteinander zu vergleichen. Im Gegenteil: Die Studienergebnisse legen nahe, dass Motivation und authentische Anlässe, eine Sprache zu sprechen, entscheidend sind. Eine zentrale Rolle nimmt dabei offenbar die Schule als Sprechanlass ein: In der Schulsprache war der Wortschatz der Kinder am Ende Studie (in den meisten Fällen) elaborierter als zu Beginn und sie beherrschten diese Sprache insgesamt am besten. Es ist also davon auszugehen, dass die Schule zur Bewahrung der wertvollen Ressource der Familiensprachen einen wichtigen Beitrag leisten kann. Ein Ausbau des bereits existierenden Konzepts bilingualer bzw. internationaler Schulen scheint daher sinnvoll – gerade weil auch viele Lehrkräfte inzwischen mehrsprachig sind. Analog ist der Einbezug von mehr als zwei Sprachen denkbar, z. B. indem in nicht-sprachspezifischen Fächern hin und wieder der Klassenverbund aufgelöst und Gruppen für die jeweiligen Herkunftssprachen gebildet werden.
Was meinen Sie?
Zum Abschluss sind Sie gefragt: Welche Erfahrungen haben Sie mit dem Wortschatzerwerb bei Ihren mehrsprachigen Kindern bzw. bei deren Geschwistern gemacht? Welche Gesprächsthemen motivieren Ihre Kinder, worüber sprechen sie in welcher Sprache? Können und sollten verschiedene Familiensprachen in der Schule gefördert werden und wie?
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Zum Weiterlesen/-schauen:
[Studie zum bilingualen Spracherwerb von Geschwistern, auf die Reiser-Bello Zago und Berthele (2023) Bezug nehmen]
Silva-Corvalán, C. (2014). Bilingual language acquisition: Spanish and English in the first six years. Cambridge University Press.
Zu problematischen Konnotationen der Begriffe Erstsprache, Muttersprache, Herkunftssprache und Familiensprache
Verfasst von David Mathieu, B.A.
Diskutierter Beitrag:
Triulzi, M., Maahs, I.-M. & Winter, C. (2023). Erstsprache, Muttersprache, Herkunftssprache oder Familiensprache? Eine Analyse von Portfolioarbeiten Lehramtsstudierender zu Bezeichnungspraktiken sprachlicher Heterogenität im Kontext von Mehrsprachigkeit. Zeitschrift für Interkulturellen Fremdsprachenunterricht 28(2), 57–87. doi: 10.48694/zif.3644
Infolge von Migration gibt es im deutschen Bildungssystem viele Schüler:innen, die neben oder auch vor dem Erwerb der Umgebungssprache Deutsch mit anderen Sprachen aufwachsen bzw. aufgewachsen sind. Damit die verschiedenen Schulformen die vielfältigen, unterschiedlichen sprachlichen Voraussetzungen der Lernenden didaktisch angemessen berücksichtigen können, müssen Lehrkräfte im Rahmen ihrer Ausbildung zunächst erlernen, wie die entsprechenden Spracherwerbsvoraussetungen präzise genannt und beschrieben werden können. Ein entscheidendes Hindernis stellen dabei allerdings unscharfe bzw. mehrdeutige Begriffe dar. Unter diesen Vorüberlegungen widmet sich eine Studie von Marco Triulzi, Ina-Maria Maahs und Christina Winter (2023) den Begriffen Erstsprache, Muttersprache, Herkunftssprache und Familiensprache.
Die Studie untersuchte anhand von 120 schriftlichen Portfolios, welche von Lehramtsstudierenden verschiedener Schulfächer und -formen an der Universität zu Köln im Rahmen ihres Praxissemesters (Wintersemester 2018/2019) eingereicht wurden, in welchen Kontexten bzw. in welcher Bedeutung und mit welchen Konnotationen die Studierenden die Begriffe verwendeten. Grundsätzlich besteht der 'kleinste gemeinsame Nenner' hinsichtlich der Bedeutung darin, dass alle vier Begriffe eine bzw. mehrere Sprachen bezeichnen können, mit denen jemand aufwächst. Konkret ergab die Analyse Folgendes: Der Begriff Erstsprache wird am häufigsten und vielseitigsten verwendet, den Terminus Muttersprache verwenden die Studierenden teilweise synonym zu Erstsprache, jedoch meist zur Bezeichnung von nur einer einzigen, von Deutsch verschiedenen Sprache. Die Begriffe Familiensprache und Herkunftssprache treten dagegen in den Portfolios seltener und kontextspezifischer auf als die anderen beiden. Darüber hinaus macht die Analyse von Triulzi et al. aber auch defizitorientierte Denkmuster sichtbar, von welchen die Verwendung der vier Begriffe in den studentischen Arbeiten teilweise zeugt. Sie beziehen sich vor allem auf den Fall, dass Lernende mit anderen Sprachen als Deutsch aufgewachsen sind und die Umgebungssprache Deutsch erst später als Zweitsprache erlernt haben. So wird in den untersuchten Portfolios teilweise das in den Begriffen Muttersprache und Erstsprache ausgedrückte Konzept der ersten erworbenen Sprache von vornherein mit einer hohen Kompetenz in dieser Sprache verknüpft und eine Unterscheidung zwischen Lernenden mit Deutsch als Erstsprache und Lernenden, die Deutsch nicht als Erstsprache haben, getroffen. Dabei werden unter anderem Lernende mit Deutsch als Zweitsprache, die über 'muttersprachenähnliche' Kompetenzen verfügen, als Sonderfall markiert, und manchmal wird ausgehend von Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache automatisch der Schluss gezogen, dass die Erstsprache eine andere als die deutsche sein muss. Diese Denkmuster sind Triulzi et al. zufolge problematisch, weil sie fälschlicherweise individuelle Unterschiede zwischen Erstsprachler:innen vernachlässigen und andere Erklärungsmöglichkeiten für sprachliche Schwierigkeiten ausschließen. Schließlich weisen Triulzi et al. auch darauf hin, dass der Begriff Herkunftssprache zwar im nordrhein-westfälischen Bildungssystem etabliert (siehe herkunftssprachlicher Unterricht, HSU), aber insofern problematisch ist, als er die Konzepte von Nationalitäten, Migration und Sprache undifferenziert vermischt und damit Lernenden ggf. die deutsche Herkunft abspricht.
Was bedeuten diese Ergebnisse der Studie nun für das deutsche Schulsystem und die (universitäre) Ausbildung von Lehrkräften? Zum Abschluss ihres Forschungsbeitrags plädieren Triulzi et al. in Anknüpfung an eine Reihe anderer Arbeiten (Dirim/Pokitsch 2017, Frank 2018, Mecheril 2016, Winter et al. 2021) dafür, bei Lehrkräften ein Bewusstsein für die vielfältigen möglichen Sprachenkonstellationen und Erwerbsbedingungen der Schüler:innen zu schaffen, damit diese entsprechend im Unterricht berücksichtigt werden können, sowie die Sensibilität im Umgang mit entsprechenden Begriffen zu fördern, um Diskriminierung zu vermeiden. Konkret empfehlen Triulzi et al. die Behandlung anschaulicher Fallbeispiele in der Ausbildung von Lehrkräften an Hochschulen, die Analyse der in den Lehrplänen verwendeten Begriffe zur Beschreibung des Sprachenrepertoires, sowie Diskussionsrunden mit Schüler:innen, Lehramtsstudierenden und Hochschuldozent:innen. In jedem Fall scheint ein wichtiger Schlüssel darin zu liegen, problematische Denkmuster aufzubrechen, die Erstsprachen von vornherein mit einem einheitlich hohen Kompetenzniveau und später erlernte Sprachen von vornherein mit einem niedrigeren Kompetenzniveau in Verbindung bringen.
Was meinen Sie?
Zum Abschluss sind Sie gefragt: Inwiefern bzw. in welchen Kontexten empfinden Sie die Verwendung der Begriffe Erstsprache, Muttersprache, Herkunftssprache und Familiensprache als problematisch? Wie können Missverständnisse Ihrer Meinung nach vermieden werden? Oder müssen eventuell ganz neue Bezeichnungen her? Haben Sie dazu Vorschläge?
Und an alle Mehrsprachigen: Welche Bezeichnungen verwenden Sie, wenn Sie über Ihr eigenes Sprachenrepertoire sprechen?
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Zum Weiterlesen:
[Beiträge zum Themenkomplex „Sprachsensibilität, Mehrsprachigkeit und Unterricht“, auf die Triulzi et al. (2023) Bezug nehmen]
Dirim, İ. & Pokitsch, D. (2017). Migrationspädagogische Zugänge zu „Deutsch als Zweitsprache“. In M. Becker-Mrotzek & H.-J. Roth (Eds.), Sprachliche Bildung – Grundlagen und Handlungsfelder (pp. 95–108). Münster: Waxmann.
Frank, M. (2018). „Sprachsensibilität“ – Ent- und Verdeckungslogiken einer Lösung für den Unterricht in der Migrationsgesellschaft. In İ. Dirim & A. Wegner (Eds.), Normative Grundlagen und reflexive Verortungen im Feld DaF und DaZ (pp. 126–140). Opladen, Berlin, Toronto: Budrich.
Mecheril, P. (2016). Migrationspädagogik – ein Projekt. In Mecheril, Paul (Ed.), Handbuch Migrationspädagogik (pp. 8–30). Weinheim, Basel: Beltz.
Winter, C., Maahs, I.-M. & Goltsev, E. (2021). Dinge beim Namen nennen? – Herausforderungen und Möglichkeiten der Sprachsensibilität in der sprachlichen Bildung. k:ON – Kölner Online Journal für Lehrer*innenbildung 3(1), 213–234. https://doi.org/10.18716/ojs/kON/2021.1.10.
Sprachwissenschaftliche Konzepte und Begriffe zu Mehrsprachigkeit und Migration
Verfasst von David Mathieu, B.A.
Diskutierter Beitrag:
Koch, N. & Riehl, C. M. (2024). Migrationslinguistik. Eine Einführung. Narr Francke Attempto, Kap. 2.2 + 3. doi: 10.24053/9783823395171
In Ihrem Buch mit dem Titel „Migrationslinguistik“ stellen Nikolas Koch und Claudia Maria Riehl (2024) fest, „dass Mehrsprachigkeit der Normalfall ist und nicht etwa ein problembehafteter Einzelfall als Folge von Migration“ (ebd.: 36). Trotzdem wird ihnen zufolge auch heute noch oft die Einsprachigkeit als Regelfall wahrgenommen. Den Grund für diese Fehleinschätzung sehen sie in erster Linie in einer inzwischen veralteten, aber immer noch wirksamen Auffassung darüber, ab wann jemand eigentlich als mehrsprachig bezeichnet werden kann: laut dieser Auffassung nämlich, wenn sie oder er zwei Sprachen auf einem muttersprachenähnlichen Niveau beherrscht, was an sich schon ein problematischer Maßstab ist (siehe Beitrag 2.1). Es stellt sich also die Frage nach dem aktuellen Stand: Wie wird Mehrsprachigkeit – auch im Kontext von Migration – inzwischen in den Sprachwissenschaften verstanden?
Den Autor:innen nach wird die „muttersprachliche“ Kompetenz in den einzelnen Sprachen inzwischen als Kriterium für Mehrsprachigkeit abgelehnt, weil dies bedeuten würde, in allen Lebensbereichen und Situationen beide Sprachen gleichermaßen verwenden zu müssen, was aber nicht der Realität von Mehrsprachigen entspricht. Dementsprechend wird Mehrsprachigkeit inzwischen als die Fähigkeit verstanden, situationsabhängig zwischen den erworbenen Sprachen wechseln zu können. Es geht dabei darum, den kommunikativen Anforderungen der jeweiligen Situation gerecht zu werden. Koch und Riehl zufolge hängt Mehrsprachigkeit damit auch nicht davon ab, ob man mit einer Sprache aufgewachsen ist oder sie erst später erlernt hat. Außerdem können in einem weiteren Sinne dann auch Dialekte und soziale Varietäten wie Jugendsprachen, deren Verwendung ja ebenfalls an bestimmte Kontexte bzw. Gesprächspartner:innen geknüpft ist, als Sprachformen neben der Standardsprache verstanden und ihre Sprecher:innen als Mehrsprachige bezeichnet werden. Damit wird infrage gestellt, ob reine Einsprachigkeit überhaupt existiert. Bei solchen Sprachregistern ist auch die Rede vom Konzept der „inneren Mehrsprachigkeit“.
Zudem gehen Koch und Riehl auf die Unterscheidung zwischen lebensweltlicher und bildungsbezogener Mehrsprachigkeit ein. Bildungsbezogene Mehrsprachigkeit bezieht sich dabei auf die im Bildungssystem als getrennte Fächer in einem tendenziell künstlichen Modus erworbenen Sprachen, während lebensweltliche Mehrsprachigkeit die tatsächlich im Alltag verwendeten Sprachen meint, die im Gegensatz zu den Schulsprachen auch gemischt werden. An derartigen Prozessen des Sprachkontakts sind also häufig die sogenannten „Herkunftssprachen“ beteiligt. Koch und Riehl erläutern, dass darunter meist eine zuerst erworbene Familiensprache verstanden wird, die nicht gleichzeitig auch Umgebungssprache ist, sodass die Sprecher:innen bilingual mit Herkunfts- und Umgebungssprache aufwachsen. Der Begriff der Herkunftssprache impliziert Koch und Riehl zufolge kein bestimmtes Kompetenzniveau, dieses fällt bei Herkunftssprachensprecher:innen sehr unterschiedlich aus und hängt auch von der Förderung der jeweiligen Herkunftssprache durch das Bildungssystem des jeweiligen Umgebungssprachenlandes ab. Eine wichtige Rolle spielt deshalb die persönliche bzw. familienhistorische Verbindung zur Herkunftssprache.
Neben diesen auf das mehrsprachige Individuum bezogenen Ausführungen nehmen Koch und Riehl auch die Mehrsprachigkeit auf gesellschaftlicher Ebene in den Blick. Sie weisen auf eine übliche Differenzierung zwischen autochthonen und allochthonen Sprachminderheiten hin. Als autochthone Minderheiten werden dabei diejenigen Gruppen bezeichnet, die bereits vor den Staatengründungen in Europa in ihrem Gebiet ansässig waren. Die allochthonen Minderheiten sind dagegen die später Hinzugezogenen, wobei vor allem im Rahmen von Migrationsbewegungen nach dem 2. Weltkrieg zugewanderte Gruppen gemeint sind. Im Gegensatz zu den allochthonen Minderheiten ist bei den autochthonen der Schutz bzw. die Förderung von Sprache und Kultur gesetzlich geregelt. Zu den autochthonen Minderheiten in Deutschland zählen Koch und Riehl die Dänen, die Nordfriesen, die Ostfriesen und die Saterfriesen im Norden bzw. Nordwesten Deutschlands, die Sorben und Wenden im Osten sowie die im gesamten Bundesgebiet lebenden Sinti und Roma. Die größten allochthonen Minderheiten sind ihnen zufolge die polnische, türkische und russische Sprachminderheit, wozu sie auch die nach der Emigration im 18. und 19. Jahrhundert „zurücksiedelnden“ Russlanddeutschen zählen.
Inwiefern sind diese Begriffe und Konzepte nun für Schule, Universität und Alltag wichtig?
Zunächst einmal schaffen sie ein Bewusstsein dafür, dass Mehrsprachigkeit eher der Regelfall als eine Ausnahme ist. Außerdem führen sie die Vielfalt an möglichen Formen von Mehrsprachigkeit vor Augen. Sowohl für den Familienalltag als auch für das Bildungssystem gilt also, dass es weder sinnvoll noch praktikabel erscheint, diese wertvolle Ressource zwanghaft in Richtung einer artifiziellen Einsprachigkeit zu lenken. Weiterhin ist, wie auch Koch und Riehl anmerken, zu berücksichtigen, dass die Vermittlung von Fremdsprachen in der Schule oft von einer künstlichen Erwerbssituation geprägt ist, wenn die entsprechenden Sprachen nicht zufällig auch im Alltag der Schülerinnen und Schüler eine Rolle spielen. Gerade vor diesem Hintergrund erscheint eine schulische Förderung der Herkunftssprachen wünschenswert, die ja ins Leben der Lernenden ganz natürlich eingebettet sind, um diese Sprachen als Ressource zu bewahren. Zwei- oder mehrsprachige Schulformen können hier ein Weg sein. Schließlich scheint es angesichts dessen, dass bei den allochthonen im Gegensatz zu den autochthonen Minderheiten ein entsprechender gesetzlicher Rahmen fehlt, für Sprecher:innen von Herkunftssprachen lohnenswert, sich (weiterhin) persönlich für den Erhalt von Sprache und Kultur ihrer Sprachminderheit einzusetzen, sowie für alle, entsprechende gesetzliche Regelungen zu fordern.
Was meinen Sie?
Zum Abschluss sind Sie gefragt: Welche der oben dargestellten Erkenntnisse bzw. Konzepte aus der Mehrsprachigkeits-forschung waren neu für Sie? Was hat Sie überrascht? Welche Fremdsprachen werden an Schulen in Ihrer Umgebung vermittelt? Sollte der an Schulen vermittelte Fremdsprachen-„Kanon“ grundsätzlich überarbeitet werden und wie?
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Zum Weiterlesen
[Zahlen zu mehrsprachigen Personen in D., auf die sich Koch und Riehl (2024) beziehen]
Zu Unterschieden zwischen Mehr- und Einsprachigen hinsichtlich Sprachenlernen und -gebrauch
Verfasst von David Mathieu, B.A.
Diskutierter Beitrag:
Grosjean, F. (1989). Neurolinguists, beware! The bilingual is not two monolinguals in one person. Brain and Language, 36 (1), 3-15. https://doi.org/10.1016/0093-934X(89)90048-5.
Deutschland wird zunehmend international und damit wird die Mehrsprachigkeit zu einer immer präsenteren Erscheinung. Trotzdem hält sich immer noch hartnäckig die Vorstellung, dass es der Normalfall ist, einsprachig zu sein: Mehrsprachig ist demnach nur, wer jede seiner Sprachen auch wie ein(e) „Muttersprachler(in)“ beherrscht (siehe Beitrag 04.). Mehrsprachige werden also für jede ihrer Sprachen am gleichen Maßstab wie Einsprachige gemessen. Aber ist das aus wissenschaftlicher Sicht überhaupt sinnvoll? Inwiefern sind Mehrsprachige und Einsprachige überhaupt vergleichbar? Hierzu präsentierte der Sprachforscher Francois Grosjean bereits 1998 einige Überlegungen, die nach wie vor relevant sind.
Im entsprechenden Artikel nimmt er für die Mehrsprachigkeit vor allem den bilingualen Fall in den Blick und grenzt dabei zwei Vorstellungen von Zweisprachigkeit voneinander ab: Der monolinguale Ansatz sieht Bilinguale als Menschen, die über zwei separate Sprachkompetenzen verfügen, die möglichst ausgeglichen sein sollen. Dieses Verständnis von Bilingualität entspricht der eingangs geschilderten Anforderung, alle Sprachen auf einem „muttersprachlichen“ Niveau beherrschen zu müssen, um wirklich als mehrsprachig zu gelten. Grosjean kritisiert diese Vorstellung von Mehrsprachigkeit vor allem aus drei Gründen. Erstens vernachlässigt sie ihm zufolge, dass Bilinguale in der Realität ihre Sprachen jeweils in ganz spezifischen sozialen Kontexten verwenden: Es werden aber eben nicht beide Sprachen gleichmäßig in den gleichen Situationen und mit denselben Menschen gesprochen. Zweitens werden Sprachmischungen in diesem Paradigma lediglich als Fehler bzw. Ausrutscher betrachtet. Und drittens wird vernachlässigt, dass sich die Sprachkompetenzen im Laufe des Lebens verändern können. Eine später erworbene Sprache kann sogar dominanter werden als die Erstsprache. Diesem monolingualen Verständnis von Bilingualität stellt Grosjean die holistische Perspektive gegenüber, welche er befürwortet. Ihr zufolge sind Bilinguale eben nicht in ihren einzelnen Sprachkompetenzen mit Monolingualen vergleichbar. Grosjeans Kernargument ist hierbei, dass nicht so sehr die formale Korrektheit bzw. Einheitlichkeit der einzelnen Sprachen in den Fokus gestellt werden sollte, sondern eher die kommunikative Kompetenz, d.h. inwiefern die jeweiligen Lebenssituationen mit dem Sprachenrepertoire angemessen bewältigt werden können. Ihm zufolge besitzen Bilinguale die gleiche kommunikative Kompetenz wie Monolinguale, sie verwenden eben nur situationsabhängig die eine oder die andere Sprache – oder sogar Sprachmischungen, wenn sie mit anderen Bilingualen sprechen. Derartige situationale Faktoren seien also beim Vergleich von Mono- und Bilingualen zu berücksichtigen.
Was bedeuten diese Ausführungen nun für Bildungseinrichtungen und für den Alltag? Grosjean betont in seiner Schilderung der von ihm bevorzugten, holistischen Perspektive auf Bilingualität die Abhängigkeit der Mehrsprachigkeit vom situationalen Kontext. Daraus lässt sich schließen, dass die Ressource der Mehrsprachigkeit umso besser gefördert werden kann, in je mehr Kontexten jede Sprache verwendet wird. Diese Einsicht spricht also für eine Förderung der Familiensprachen an Bildungseinrichtungen wie Kitas bzw. Kindergärten und insbesondere Schulen, damit die Sprachen nicht nur im familiären Alltag, sondern auch in formalen Kontexten und in vielfältigeren Themengebieten verwendet werden können. Weiterhin lässt sich darüber diskutieren, inwiefern es gerechtfertigt ist, dass monolinguale und mehrsprachige Schülerinnen und Schüler in Prüfungen am selben Maßstab gemessen werden. Auf dieser Überlegung basiert beispielsweise das Projekt „Allrad-M“ (Gantefort/Goltsev 2024), welches bei der Überprüfung des Hörverstehens mehrsprachigen Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit gab, sowohl Audio als auch Prüfungsfragen abwechselnd in allen ihren Sprachen wiederzugeben bzw. anzuzeigen. Schließlich weist Grosjean in seinem Artikel auch darauf hin, dass Mehrsprachige ihre Fähigkeiten oft als unzureichend empfinden, weil sie eben das monolinguale Verständnis von Mehrsprachigkeit verinnerlicht haben. Alle Mehrsprachigen bzw. Sprachlernenden kann Grosjeans Argumentation also daran erinnern, sich selbst nicht zu viel Druck beim Sprachenlernen zu machen, sondern sich vielleicht einmal bewusst zu machen: Welche Situationen will ich eigentlich in welcher Sprache meistern und wo gelingt mir das sogar schon?
Was meinen Sie?
Zum Abschluss sind Sie gefragt: Ab wann ist jemand aus Ihrer Sicht mehrsprachig? Inwiefern würden Sie sich selbst als mehrsprachig bezeichnen? Halten Sie Prüfungen nach dem Prinzip von „Allrad-M“ für sinnvoll bzw. fair oder sollten doch alle Schülerinnen und Schüler strikt einsprachig geprüft werden?
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Gantefort, C. & Goltsev, E. (2024): Allgemeine rezeptive sprachliche Fähigkeiten diagnostizieren – Mehrsprachig. Allrad – M.