Was wir machen: Wissenstransfer & Praxis
Die IFM möchte wissenschaftliche Erkenntnisse mit ihren Aktivitäten in die Praxis tragen.
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Zum Einfluss der Familie auf den Spracherwerb der Kinder
Verfasst von David Mathieu, B.A.
Diskutierter Beitrag:
Cantone, K. F. (2019). Language exposure in early bilingual and trilingual acquisition. International Journal of Multilingualism, 19(3), 402–417. https://doi.org/10.1080/14790718.2019.1703995
Deutschland weist aktuell eine moderne, migrationsgeprägte Gesellschaftsstruktur auf. Das bedeutet auch: In vielen Familien haben die Eltern, auch wenn sie bereits mit der deutschen Sprache aufgewachsen sind, darüber hinaus noch eine oder mehrere andere Erstsprachen. Es stellt sich also die Frage, wie die wertvolle Ressource der Mehrsprachigkeit erhalten werden kann: Welchen Einfluss hat die Familie darauf, dass Kinder zwei oder mehrsprachig aufwachsen? Mit dieser Frage beschäftigt sich eine Studie der Sprachforscherin Katja Cantone (2019) von der Universität Duisburg-Essen.
Im Rahmen dieser Studie wurden 6 Kinder bis zum Ende des dritten Lebensjahrs untersucht, in deren Familien beide Eltern mit der deutschen Sprache aufgewachsen sind und zudem mindestens ein Elternteil eine weitere Erstsprache hat. Es stellt sich heraus, dass die Menge an Input, den die Kinder in den Sprachen der Eltern jeweils erhalten, zwar ein wichtiger Faktor ist, aber keinen so eindeutigen Einfluss auf die Mehrsprachigkeit der Kinder hat, wie man es vielleicht intuitiv erwarten würde. Unter Bezugnahme auf andere Studien erklärt Cantone, dass eine Sprache zwar eventuell ein Minimum von 20% im gesamten Sprachinput einnehmen muss, um erworben zu werden, weist aber gleichzeitig auf die Möglichkeit hin, dass Kinder trotz geringeren Inputs lernen können, Sprachen zu verstehen, auch wenn sie diese nicht aktiv sprechen.
Ein weiteres Ergebnis der Studie von Cantone ist aber auch, dass die Allgegenwärtigkeit der Umgebungssprache Deutsch den Erhalt der anderen Elternsprachen langfristig beeinträchtigen kann. So haben in einigen der untersuchten Familien beide Eltern neben dem Deutschen eine weitere Erstsprache (und zwar nicht die gleiche), beherrschen aber jeweils diese zusätzliche Sprache der Partnerin bzw. des Partners nicht, sodass sie miteinander auf Deutsch kommunizieren. Obwohl diese Eltern die Strategie verfolgten, im Einzelgespräch mit den Kindern ihre jeweilige zusätzliche Erstsprache (nicht Deutsch) zu sprechen, werden Cantone zufolge die Kinder mit zunehmendem Alter immer mehr in Familiengespräche einbezogen, wo nur Deutsch als für alle verständliche Sprache möglich ist. Und natürlich wächst auch der Einfluss von Kontakten außerhalb der Familie in der Umgebungssprache Deutsch.
Weiterhin stellt Cantone fest, dass Großeltern einen entscheidenden Einfluss auf den Spracherhalt haben. Der Einfluss älterer Geschwister erwies sich in der Studie als ambivalent: Eine ältere Schwester förderte die Verwendung einer Herkunftssprache, ein älterer Bruder förderte die Verwendung der Umgebungssprache Deutsch. Außerdem kann das Prestige der Sprachen deren Erhalt beeinflussen.
Was bedeuten diese Ergebnisse nun für den Familienalltag und für Einrichtungen der Kinderbetreuung im frühkindlichen Alter? Cantone ermuntert in einer abschließenden Bemerkung ihres Beitrags Eltern dazu, ihre Kinder mehrsprachig zu erziehen, ohne die Angst, dass sich dies negativ auf den Erwerb der Umgebungssprache Deutsch auswirken könnte. Das passt auch zu den Studienergebnissen: Denn diese machen den starken Einfluss der Umgebungssprache deutlich, der sich vor allem mit zunehmendem Alter der Kinder automatisch ergibt und schließlich den Erhalt der anderen Familiensprachen sogar beeinträchtigen kann. Dementsprechend schlägt Cantone mehrsprachigen Eltern vor, eventuell die Inputzeiten für die einzelnen Sprachen festzuhalten, um ein Bewusstsein für Muster in der Sprachverwendung zu schaffen. Außerdem legen Cantones Ergebnisse sowie die Ergebnisse zweier anderer Studien, auf die sie Bezug nimmt (Quay 2001, 2008), nahe, dass es für Eltern sinnvoll sein kann, die weitere(n) Erstsprache(n) des anderen Elternteils zu erlernen, um Familiengespräche in allen Sprachen der Eltern zu ermöglichen und so das zwei- bis dreisprachige Aufwachsen der Kinder zu fördern. Im Hinblick auf Betreuungseinrichtungen wäre anknüpfend an Cantones Studie denkbar, für zeitlich begrenzte Aktivitäten Gruppen von Kindern zu bilden, die den gleichen oder zumindest einen ähnlichen familiensprachlichen Hintergrund haben, um die Verwendung der jeweiligen Herkunftssprachen zu fördern.
Was meinen Sie?
Zum Abschluss sind Sie gefragt: Lohnt sich die Entscheidung zur mehrsprachigen Kindererziehung? Wie handhaben Sie dies in Ihrer Familie und was sind Ihre Erfahrungen? Sollten Einrichtungen der Kinderbetreuung im frühkindlichen Alter Mehrsprachigkeit berücksichtigen und wie?
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Zum Weiterlesen:
[Studien mit ähnlichem Ansatz, auf die Cantone (2019) Bezug nimmt]
Chevalier, S. (2011). Trilingual language acquisition contextual factors influencing active trilingualism in early childhood. Habilitationsschrift: University of Zürich.
Quay, S. (2001). Managing linguistic boundaries in early trilingual development. In J. Cenoz & F. Genesee (Eds.), Trends in bilingual acquisition (pp. 149–199). Amsterdam: Benjamins.
Quay, S. (2008). Dinner conversations with a trilingual two-year-old: Language socialization in a multi-lingual context. First Language, 28(1), 5–33.
Zum dreisprachigen Wortschatzerwerb im Grundschulalter
Verfasst von David Mathieu, B.A.
Diskutierter Beitrag:
Zago, E. R. B., & Berthele, R. (2023). Trilingual children’s narratives: a longitudinal study of lexical development. International Journal of Multilingualism, 21(4), 2182–2197. https://doi.org/10.1080/14790718.2023.2232394
Infolge der Globalisierung und der damit einhergehenden individuellen Mobilität wurden und werden immer mehr Familien gegründet, in welchen die Kinder mit diversen Sprachenkonstellationen aufwachsen: Ein Elternteil, der gegebenenfalls selbst mehrsprachig ist, hat oft andere Erstsprachen als die Partnerin bzw. der Partner, und diese Sprachen wiederum unterscheiden sich eventuell von der Umgebungssprache. Daher gibt es immer mehr dreisprachig aufwachsende Kinder. Aber wie läuft das eigentlich ab? Wie lernen Kinder die Wörter in den drei Sprachen? Und welchen Einfluss hat die Schule? Diesen Fragen widmet sich eine Studie der Sprachwissenschaftler Elisabeth Reiser-Bello Zago und Raphael Berthele (2023) von der Universität Freiburg in der Schweiz.
Sie untersuchten drei Geschwisterpaare (insgesamt 6 Kinder) aus der Schweiz im Grundschulalter zu drei Zeitpunkten über drei Jahre hinweg. Alle Kinder wachsen dreisprachig auf, und zwar entweder mit den Sprachen Englisch, Französisch und Spanisch oder Deutsch, Französisch und Spanisch. Im Rahmen der Studie wurden die Kinder an den drei Untersuchungszeitpunkten aufgefordert, kurze Folgen der Animationsserie „Pingu“ in allen drei Sprachen nachzuerzählen. Im Fokus stand dabei die Entwicklung des Wortschatzes, gemessen an der Länge der Erzählungen, der lexikalischen Vielfalt und der Ausdrucksschärfe, d.h. der Fähigkeit der Kinder, möglichst treffende, seltener in einer Sprache vorkommende Wörter zu verwenden. Ein zentrales Ergebnis der Studie ist die beobachtete Tendenz, dass der Wortschatz der Kinder in allen Sprachen stetig vielfältiger und elaborierter wurde, besonders jedoch in der Sprache, die jeweils in der Schule verwendet wird. Die Schulsprache verwendeten die Kinder im Untersuchungszeitraum auch insgesamt am kompetentesten. Es gab dabei aber auch recht deutliche Unterschiede zwischen den einzelnen Kindern in Bezug darauf, wie stark diese Tendenz ausfällt: Die Wortschatzentwicklung erwies sich also als sehr individuell, sogar bei Geschwistern, die ja eigentlich einen vergleichbaren Spracheninput erhalten. Aus der Datenerhebung für das älteste Kind, einen Jungen, der zu Beginn der Studie 9 und zum letzten Messzeitpunkt 11 Jahre alt war, konnte schließlich eine weitere wichtige Erkenntnis gewonnen werden: Für die Verwendung aller Sprachen ist die Motivation entscheidend. Denn der Junge produzierte im Verlauf der Studie wider Erwarten und im Gegensatz zum Gesamtbild der übrigen Kinder immer kürzere Erzählungen und zeigte einen scheinbar immer weniger elaborierten Wortschatz. Gegenüber dem Forscherteam machte er dabei allerdings auch einen zunehmend gelangweilten Eindruck und äußerte explizit seine Ansicht, dass die nachzuerzählenden Videos etwas für jüngere Kinder seien.
Was bedeuten die Ergebnisse der Studie nun für den Familienalltag und für die Grundschule? Zunächst machen sie klar, dass Kinder, die dreisprachig aufwachsen, nicht alle drei Sprachen automatisch gleichmäßig erlernen: Sie wachsen nicht als "dreifache Einsprachige" auf. Außerdem verläuft der trilinguale Spracherwerb ganz individuell, sogar bei Geschwistern gibt es Unterschiede. Es scheint also wenig sinnvoll, mehrsprachige Kinder bezüglich des Erwerbs ihrer einzelnen Sprachen unter Druck zu setzen oder miteinander zu vergleichen. Im Gegenteil: Die Studienergebnisse legen nahe, dass Motivation und authentische Anlässe, eine Sprache zu sprechen, entscheidend sind. Eine zentrale Rolle nimmt dabei offenbar die Schule als Sprechanlass ein: In der Schulsprache war der Wortschatz der Kinder am Ende Studie (in den meisten Fällen) elaborierter als zu Beginn und sie beherrschten diese Sprache insgesamt am besten. Es ist also davon auszugehen, dass die Schule zur Bewahrung der wertvollen Ressource der Familiensprachen einen wichtigen Beitrag leisten kann. Ein Ausbau des bereits existierenden Konzepts bilingualer bzw. internationaler Schulen scheint daher sinnvoll – gerade weil auch viele Lehrkräfte inzwischen mehrsprachig sind. Analog ist der Einbezug von mehr als zwei Sprachen denkbar, z. B. indem in nicht-sprachspezifischen Fächern hin und wieder der Klassenverbund aufgelöst und Gruppen für die jeweiligen Herkunftssprachen gebildet werden.
Was meinen Sie?
Zum Abschluss sind Sie gefragt: Welche Erfahrungen haben Sie mit dem Wortschatzerwerb bei Ihren mehrsprachigen Kindern bzw. bei deren Geschwistern gemacht? Welche Gesprächsthemen motivieren Ihre Kinder, worüber sprechen sie in welcher Sprache? Können und sollten verschiedene Familiensprachen in der Schule gefördert werden und wie?
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Zum Weiterlesen/-schauen:
[Studie zum bilingualen Spracherwerb von Geschwistern, auf die Reiser-Bello Zago und Berthele (2023) Bezug nehmen]
Silva-Corvalán, C. (2014). Bilingual language acquisition: Spanish and English in the first six years. Cambridge University Press.
Zu problematischen Konnotationen der Begriffe Erstsprache, Muttersprache, Herkunftssprache und Familiensprache
Verfasst von David Mathieu, B.A.
Diskutierter Beitrag:
Triulzi, M., Maahs, I.-M. & Winter, C. (2023). Erstsprache, Muttersprache, Herkunftssprache oder Familiensprache? Eine Analyse von Portfolioarbeiten Lehramtsstudierender zu Bezeichnungspraktiken sprachlicher Heterogenität im Kontext von Mehrsprachigkeit. Zeitschrift für Interkulturellen Fremdsprachenunterricht 28(2), 57–87. doi: 10.48694/zif.3644
Infolge von Migration gibt es im deutschen Bildungssystem viele Schüler:innen, die neben oder auch vor dem Erwerb der Umgebungssprache Deutsch mit anderen Sprachen aufwachsen bzw. aufgewachsen sind. Damit die verschiedenen Schulformen die vielfältigen, unterschiedlichen sprachlichen Voraussetzungen der Lernenden didaktisch angemessen berücksichtigen können, müssen Lehrkräfte im Rahmen ihrer Ausbildung zunächst erlernen, wie die entsprechenden Spracherwerbsvoraussetungen präzise genannt und beschrieben werden können. Ein entscheidendes Hindernis stellen dabei allerdings unscharfe bzw. mehrdeutige Begriffe dar. Unter diesen Vorüberlegungen widmet sich eine Studie von Marco Triulzi, Ina-Maria Maahs und Christina Winter (2023) den Begriffen Erstsprache, Muttersprache, Herkunftssprache und Familiensprache.
Die Studie untersuchte anhand von 120 schriftlichen Portfolios, welche von Lehramtsstudierenden verschiedener Schulfächer und -formen an der Universität zu Köln im Rahmen ihres Praxissemesters (Wintersemester 2018/2019) eingereicht wurden, in welchen Kontexten bzw. in welcher Bedeutung und mit welchen Konnotationen die Studierenden die Begriffe verwendeten. Grundsätzlich besteht der 'kleinste gemeinsame Nenner' hinsichtlich der Bedeutung darin, dass alle vier Begriffe eine bzw. mehrere Sprachen bezeichnen können, mit denen jemand aufwächst. Konkret ergab die Analyse Folgendes: Der Begriff Erstsprache wird am häufigsten und vielseitigsten verwendet, den Terminus Muttersprache verwenden die Studierenden teilweise synonym zu Erstsprache, jedoch meist zur Bezeichnung von nur einer einzigen, von Deutsch verschiedenen Sprache. Die Begriffe Familiensprache und Herkunftssprache treten dagegen in den Portfolios seltener und kontextspezifischer auf als die anderen beiden. Darüber hinaus macht die Analyse von Triulzi et al. aber auch defizitorientierte Denkmuster sichtbar, von welchen die Verwendung der vier Begriffe in den studentischen Arbeiten teilweise zeugt. Sie beziehen sich vor allem auf den Fall, dass Lernende mit anderen Sprachen als Deutsch aufgewachsen sind und die Umgebungssprache Deutsch erst später als Zweitsprache erlernt haben. So wird in den untersuchten Portfolios teilweise das in den Begriffen Muttersprache und Erstsprache ausgedrückte Konzept der ersten erworbenen Sprache von vornherein mit einer hohen Kompetenz in dieser Sprache verknüpft und eine Unterscheidung zwischen Lernenden mit Deutsch als Erstsprache und Lernenden, die Deutsch nicht als Erstsprache haben, getroffen. Dabei werden unter anderem Lernende mit Deutsch als Zweitsprache, die über 'muttersprachenähnliche' Kompetenzen verfügen, als Sonderfall markiert, und manchmal wird ausgehend von Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache automatisch der Schluss gezogen, dass die Erstsprache eine andere als die deutsche sein muss. Diese Denkmuster sind Triulzi et al. zufolge problematisch, weil sie fälschlicherweise individuelle Unterschiede zwischen Erstsprachler:innen vernachlässigen und andere Erklärungsmöglichkeiten für sprachliche Schwierigkeiten ausschließen. Schließlich weisen Triulzi et al. auch darauf hin, dass der Begriff Herkunftssprache zwar im nordrhein-westfälischen Bildungssystem etabliert (siehe herkunftssprachlicher Unterricht, HSU), aber insofern problematisch ist, als er die Konzepte von Nationalitäten, Migration und Sprache undifferenziert vermischt und damit Lernenden ggf. die deutsche Herkunft abspricht.
Was bedeuten diese Ergebnisse der Studie nun für das deutsche Schulsystem und die (universitäre) Ausbildung von Lehrkräften? Zum Abschluss ihres Forschungsbeitrags plädieren Triulzi et al. in Anknüpfung an eine Reihe anderer Arbeiten (Dirim/Pokitsch 2017, Frank 2018, Mecheril 2016, Winter et al. 2021) dafür, bei Lehrkräften ein Bewusstsein für die vielfältigen möglichen Sprachenkonstellationen und Erwerbsbedingungen der Schüler:innen zu schaffen, damit diese entsprechend im Unterricht berücksichtigt werden können, sowie die Sensibilität im Umgang mit entsprechenden Begriffen zu fördern, um Diskriminierung zu vermeiden. Konkret empfehlen Triulzi et al. die Behandlung anschaulicher Fallbeispiele in der Ausbildung von Lehrkräften an Hochschulen, die Analyse der in den Lehrplänen verwendeten Begriffe zur Beschreibung des Sprachenrepertoires, sowie Diskussionsrunden mit Schüler:innen, Lehramtsstudierenden und Hochschuldozent:innen. In jedem Fall scheint ein wichtiger Schlüssel darin zu liegen, problematische Denkmuster aufzubrechen, die Erstsprachen von vornherein mit einem einheitlich hohen Kompetenzniveau und später erlernte Sprachen von vornherein mit einem niedrigeren Kompetenzniveau in Verbindung bringen.
Was meinen Sie?
Zum Abschluss sind Sie gefragt: Inwiefern bzw. in welchen Kontexten empfinden Sie die Verwendung der Begriffe Erstsprache, Muttersprache, Herkunftssprache und Familiensprache als problematisch? Wie können Missverständnisse Ihrer Meinung nach vermieden werden? Oder müssen eventuell ganz neue Bezeichnungen her? Haben Sie dazu Vorschläge?
Und an alle Mehrsprachigen: Welche Bezeichnungen verwenden Sie, wenn Sie über Ihr eigenes Sprachenrepertoire sprechen?
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Zum Weiterlesen:
[Beiträge zum Themenkomplex „Sprachsensibilität, Mehrsprachigkeit und Unterricht“, auf die Triulzi et al. (2023) Bezug nehmen]
Dirim, İ. & Pokitsch, D. (2017). Migrationspädagogische Zugänge zu „Deutsch als Zweitsprache“. In M. Becker-Mrotzek & H.-J. Roth (Eds.), Sprachliche Bildung – Grundlagen und Handlungsfelder (pp. 95–108). Münster: Waxmann.
Frank, M. (2018). „Sprachsensibilität“ – Ent- und Verdeckungslogiken einer Lösung für den Unterricht in der Migrationsgesellschaft. In İ. Dirim & A. Wegner (Eds.), Normative Grundlagen und reflexive Verortungen im Feld DaF und DaZ (pp. 126–140). Opladen, Berlin, Toronto: Budrich.
Mecheril, P. (2016). Migrationspädagogik – ein Projekt. In Mecheril, Paul (Ed.), Handbuch Migrationspädagogik (pp. 8–30). Weinheim, Basel: Beltz.
Winter, C., Maahs, I.-M. & Goltsev, E. (2021). Dinge beim Namen nennen? – Herausforderungen und Möglichkeiten der Sprachsensibilität in der sprachlichen Bildung. k:ON – Kölner Online Journal für Lehrer*innenbildung 3(1), 213–234. https://doi.org/10.18716/ojs/kON/2021.1.10.
Sprachwissenschaftliche Konzepte und Begriffe zu Mehrsprachigkeit und Migration
Verfasst von David Mathieu, B.A.
Diskutierter Beitrag:
Koch, N. & Riehl, C. M. (2024). Migrationslinguistik. Eine Einführung. Narr Francke Attempto, Kap. 2.2 + 3. doi: 10.24053/9783823395171
In Ihrem Buch mit dem Titel „Migrationslinguistik“ stellen Nikolas Koch und Claudia Maria Riehl (2024) fest, „dass Mehrsprachigkeit der Normalfall ist und nicht etwa ein problembehafteter Einzelfall als Folge von Migration“ (ebd.: 36). Trotzdem wird ihnen zufolge auch heute noch oft die Einsprachigkeit als Regelfall wahrgenommen. Den Grund für diese Fehleinschätzung sehen sie in erster Linie in einer inzwischen veralteten, aber immer noch wirksamen Auffassung darüber, ab wann jemand eigentlich als mehrsprachig bezeichnet werden kann: laut dieser Auffassung nämlich, wenn sie oder er zwei Sprachen auf einem muttersprachenähnlichen Niveau beherrscht, was an sich schon ein problematischer Maßstab ist (siehe Beitrag 2.1). Es stellt sich also die Frage nach dem aktuellen Stand: Wie wird Mehrsprachigkeit – auch im Kontext von Migration – inzwischen in den Sprachwissenschaften verstanden?
Den Autor:innen nach wird die „muttersprachliche“ Kompetenz in den einzelnen Sprachen inzwischen als Kriterium für Mehrsprachigkeit abgelehnt, weil dies bedeuten würde, in allen Lebensbereichen und Situationen beide Sprachen gleichermaßen verwenden zu müssen, was aber nicht der Realität von Mehrsprachigen entspricht. Dementsprechend wird Mehrsprachigkeit inzwischen als die Fähigkeit verstanden, situationsabhängig zwischen den erworbenen Sprachen wechseln zu können. Es geht dabei darum, den kommunikativen Anforderungen der jeweiligen Situation gerecht zu werden. Koch und Riehl zufolge hängt Mehrsprachigkeit damit auch nicht davon ab, ob man mit einer Sprache aufgewachsen ist oder sie erst später erlernt hat. Außerdem können in einem weiteren Sinne dann auch Dialekte und soziale Varietäten wie Jugendsprachen, deren Verwendung ja ebenfalls an bestimmte Kontexte bzw. Gesprächspartner:innen geknüpft ist, als Sprachformen neben der Standardsprache verstanden und ihre Sprecher:innen als Mehrsprachige bezeichnet werden. Damit wird infrage gestellt, ob reine Einsprachigkeit überhaupt existiert. Bei solchen Sprachregistern ist auch die Rede vom Konzept der „inneren Mehrsprachigkeit“.
Zudem gehen Koch und Riehl auf die Unterscheidung zwischen lebensweltlicher und bildungsbezogener Mehrsprachigkeit ein. Bildungsbezogene Mehrsprachigkeit bezieht sich dabei auf die im Bildungssystem als getrennte Fächer in einem tendenziell künstlichen Modus erworbenen Sprachen, während lebensweltliche Mehrsprachigkeit die tatsächlich im Alltag verwendeten Sprachen meint, die im Gegensatz zu den Schulsprachen auch gemischt werden. An derartigen Prozessen des Sprachkontakts sind also häufig die sogenannten „Herkunftssprachen“ beteiligt. Koch und Riehl erläutern, dass darunter meist eine zuerst erworbene Familiensprache verstanden wird, die nicht gleichzeitig auch Umgebungssprache ist, sodass die Sprecher:innen bilingual mit Herkunfts- und Umgebungssprache aufwachsen. Der Begriff der Herkunftssprache impliziert Koch und Riehl zufolge kein bestimmtes Kompetenzniveau, dieses fällt bei Herkunftssprachensprecher:innen sehr unterschiedlich aus und hängt auch von der Förderung der jeweiligen Herkunftssprache durch das Bildungssystem des jeweiligen Umgebungssprachenlandes ab. Eine wichtige Rolle spielt deshalb die persönliche bzw. familienhistorische Verbindung zur Herkunftssprache.
Neben diesen auf das mehrsprachige Individuum bezogenen Ausführungen nehmen Koch und Riehl auch die Mehrsprachigkeit auf gesellschaftlicher Ebene in den Blick. Sie weisen auf eine übliche Differenzierung zwischen autochthonen und allochthonen Sprachminderheiten hin. Als autochthone Minderheiten werden dabei diejenigen Gruppen bezeichnet, die bereits vor den Staatengründungen in Europa in ihrem Gebiet ansässig waren. Die allochthonen Minderheiten sind dagegen die später Hinzugezogenen, wobei vor allem im Rahmen von Migrationsbewegungen nach dem 2. Weltkrieg zugewanderte Gruppen gemeint sind. Im Gegensatz zu den allochthonen Minderheiten ist bei den autochthonen der Schutz bzw. die Förderung von Sprache und Kultur gesetzlich geregelt. Zu den autochthonen Minderheiten in Deutschland zählen Koch und Riehl die Dänen, die Nordfriesen, die Ostfriesen und die Saterfriesen im Norden bzw. Nordwesten Deutschlands, die Sorben und Wenden im Osten sowie die im gesamten Bundesgebiet lebenden Sinti und Roma. Die größten allochthonen Minderheiten sind ihnen zufolge die polnische, türkische und russische Sprachminderheit, wozu sie auch die nach der Emigration im 18. und 19. Jahrhundert „zurücksiedelnden“ Russlanddeutschen zählen.
Inwiefern sind diese Begriffe und Konzepte nun für Schule, Universität und Alltag wichtig?
Zunächst einmal schaffen sie ein Bewusstsein dafür, dass Mehrsprachigkeit eher der Regelfall als eine Ausnahme ist. Außerdem führen sie die Vielfalt an möglichen Formen von Mehrsprachigkeit vor Augen. Sowohl für den Familienalltag als auch für das Bildungssystem gilt also, dass es weder sinnvoll noch praktikabel erscheint, diese wertvolle Ressource zwanghaft in Richtung einer artifiziellen Einsprachigkeit zu lenken. Weiterhin ist, wie auch Koch und Riehl anmerken, zu berücksichtigen, dass die Vermittlung von Fremdsprachen in der Schule oft von einer künstlichen Erwerbssituation geprägt ist, wenn die entsprechenden Sprachen nicht zufällig auch im Alltag der Schülerinnen und Schüler eine Rolle spielen. Gerade vor diesem Hintergrund erscheint eine schulische Förderung der Herkunftssprachen wünschenswert, die ja ins Leben der Lernenden ganz natürlich eingebettet sind, um diese Sprachen als Ressource zu bewahren. Zwei- oder mehrsprachige Schulformen können hier ein Weg sein. Schließlich scheint es angesichts dessen, dass bei den allochthonen im Gegensatz zu den autochthonen Minderheiten ein entsprechender gesetzlicher Rahmen fehlt, für Sprecher:innen von Herkunftssprachen lohnenswert, sich (weiterhin) persönlich für den Erhalt von Sprache und Kultur ihrer Sprachminderheit einzusetzen, sowie für alle, entsprechende gesetzliche Regelungen zu fordern.
Was meinen Sie?
Zum Abschluss sind Sie gefragt: Welche der oben dargestellten Erkenntnisse bzw. Konzepte aus der Mehrsprachigkeits-forschung waren neu für Sie? Was hat Sie überrascht? Welche Fremdsprachen werden an Schulen in Ihrer Umgebung vermittelt? Sollte der an Schulen vermittelte Fremdsprachen-„Kanon“ grundsätzlich überarbeitet werden und wie?
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Zum Weiterlesen
[Zahlen zu mehrsprachigen Personen in D., auf die sich Koch und Riehl (2024) beziehen]
Zu Unterschieden zwischen Mehr- und Einsprachigen hinsichtlich Sprachenlernen und -gebrauch
Verfasst von David Mathieu, B.A.
Diskutierter Beitrag:
Grosjean, F. (1989). Neurolinguists, beware! The bilingual is not two monolinguals in one person. Brain and Language, 36 (1), 3-15. https://doi.org/10.1016/0093-934X(89)90048-5.
Deutschland wird zunehmend international und damit wird die Mehrsprachigkeit zu einer immer präsenteren Erscheinung. Trotzdem hält sich immer noch hartnäckig die Vorstellung, dass es der Normalfall ist, einsprachig zu sein: Mehrsprachig ist demnach nur, wer jede seiner Sprachen auch wie ein(e) „Muttersprachler(in)“ beherrscht (siehe Beitrag 04.). Mehrsprachige werden also für jede ihrer Sprachen am gleichen Maßstab wie Einsprachige gemessen. Aber ist das aus wissenschaftlicher Sicht überhaupt sinnvoll? Inwiefern sind Mehrsprachige und Einsprachige überhaupt vergleichbar? Hierzu präsentierte der Sprachforscher Francois Grosjean bereits 1998 einige Überlegungen, die nach wie vor relevant sind.
Im entsprechenden Artikel nimmt er für die Mehrsprachigkeit vor allem den bilingualen Fall in den Blick und grenzt dabei zwei Vorstellungen von Zweisprachigkeit voneinander ab: Der monolinguale Ansatz sieht Bilinguale als Menschen, die über zwei separate Sprachkompetenzen verfügen, die möglichst ausgeglichen sein sollen. Dieses Verständnis von Bilingualität entspricht der eingangs geschilderten Anforderung, alle Sprachen auf einem „muttersprachlichen“ Niveau beherrschen zu müssen, um wirklich als mehrsprachig zu gelten. Grosjean kritisiert diese Vorstellung von Mehrsprachigkeit vor allem aus drei Gründen. Erstens vernachlässigt sie ihm zufolge, dass Bilinguale in der Realität ihre Sprachen jeweils in ganz spezifischen sozialen Kontexten verwenden: Es werden aber eben nicht beide Sprachen gleichmäßig in den gleichen Situationen und mit denselben Menschen gesprochen. Zweitens werden Sprachmischungen in diesem Paradigma lediglich als Fehler bzw. Ausrutscher betrachtet. Und drittens wird vernachlässigt, dass sich die Sprachkompetenzen im Laufe des Lebens verändern können. Eine später erworbene Sprache kann sogar dominanter werden als die Erstsprache. Diesem monolingualen Verständnis von Bilingualität stellt Grosjean die holistische Perspektive gegenüber, welche er befürwortet. Ihr zufolge sind Bilinguale eben nicht in ihren einzelnen Sprachkompetenzen mit Monolingualen vergleichbar. Grosjeans Kernargument ist hierbei, dass nicht so sehr die formale Korrektheit bzw. Einheitlichkeit der einzelnen Sprachen in den Fokus gestellt werden sollte, sondern eher die kommunikative Kompetenz, d.h. inwiefern die jeweiligen Lebenssituationen mit dem Sprachenrepertoire angemessen bewältigt werden können. Ihm zufolge besitzen Bilinguale die gleiche kommunikative Kompetenz wie Monolinguale, sie verwenden eben nur situationsabhängig die eine oder die andere Sprache – oder sogar Sprachmischungen, wenn sie mit anderen Bilingualen sprechen. Derartige situationale Faktoren seien also beim Vergleich von Mono- und Bilingualen zu berücksichtigen.
Was bedeuten diese Ausführungen nun für Bildungseinrichtungen und für den Alltag? Grosjean betont in seiner Schilderung der von ihm bevorzugten, holistischen Perspektive auf Bilingualität die Abhängigkeit der Mehrsprachigkeit vom situationalen Kontext. Daraus lässt sich schließen, dass die Ressource der Mehrsprachigkeit umso besser gefördert werden kann, in je mehr Kontexten jede Sprache verwendet wird. Diese Einsicht spricht also für eine Förderung der Familiensprachen an Bildungseinrichtungen wie Kitas bzw. Kindergärten und insbesondere Schulen, damit die Sprachen nicht nur im familiären Alltag, sondern auch in formalen Kontexten und in vielfältigeren Themengebieten verwendet werden können. Weiterhin lässt sich darüber diskutieren, inwiefern es gerechtfertigt ist, dass monolinguale und mehrsprachige Schülerinnen und Schüler in Prüfungen am selben Maßstab gemessen werden. Auf dieser Überlegung basiert beispielsweise das Projekt „Allrad-M“ (Gantefort/Goltsev 2024), welches bei der Überprüfung des Hörverstehens mehrsprachigen Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit gab, sowohl Audio als auch Prüfungsfragen abwechselnd in allen ihren Sprachen wiederzugeben bzw. anzuzeigen. Schließlich weist Grosjean in seinem Artikel auch darauf hin, dass Mehrsprachige ihre Fähigkeiten oft als unzureichend empfinden, weil sie eben das monolinguale Verständnis von Mehrsprachigkeit verinnerlicht haben. Alle Mehrsprachigen bzw. Sprachlernenden kann Grosjeans Argumentation also daran erinnern, sich selbst nicht zu viel Druck beim Sprachenlernen zu machen, sondern sich vielleicht einmal bewusst zu machen: Welche Situationen will ich eigentlich in welcher Sprache meistern und wo gelingt mir das sogar schon?
Was meinen Sie?
Zum Abschluss sind Sie gefragt: Ab wann ist jemand aus Ihrer Sicht mehrsprachig? Inwiefern würden Sie sich selbst als mehrsprachig bezeichnen? Halten Sie Prüfungen nach dem Prinzip von „Allrad-M“ für sinnvoll bzw. fair oder sollten doch alle Schülerinnen und Schüler strikt einsprachig geprüft werden?
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Gantefort, C. & Goltsev, E. (2024): Allgemeine rezeptive sprachliche Fähigkeiten diagnostizieren – Mehrsprachig. Allrad – M.
Zu sprachlicher Norm und Sprachwandel
Verfasst von David Mathieu, B.A.
Diskutierter Beitrag:
Cantone, K. F., Olfert, H., Di Venanzio, L., Gürsoy, E., Schroedler, T. & Wolf-Farré, P. (2024). Spracherhalt und Mehrsprachigkeit. Eine Einführung. Narr Francke Attempto, Kap. 5 & 6. https://doi.org/10.24053/9783381105823
Wenn Eltern mit Migrationshintergrund ihre Erstsprachen an die eigenen Kinder weitergeben möchten, aber insbesondere auch dann, wenn diese Sprachen in Bildungseinrichtungen gefördert werden sollen, stellt sich automatisch die Frage: Was ist eigentlich gute bzw. "richtige" Sprache? Gegebenenfalls werden hierbei einsprachig im Herkunftsland aufgewachsene "Muttersprachler:innen" als Maßstab genommen – ein problematischer Ansatz, wie bereits in Beitrag 05. gezeigt wurde. Nach welcher sprachlichen Norm können sich Herkunftssprachensprecher:innen aber sonst richten? Oder sind solche Normen gar überflüssig? Einen Überblick über sprachwissenschaftliche Perspektiven zu diesen Fragestellungen geben die Forscher:innen Cantone, Olfert, Di Venanzio, Gürsoy, Schroedler und Wolf-Farré (2024) in ihrer Veröffentlichung Spracherhalt und Mehrsprachigkeit, insbesondere im Rahmen der Kapitel 5 (von Di Venanzio und Olfert) und 6 (von Di Venanzio).
Zunächst gehen sie dabei auf die sprachwissenschaftliche Unterscheidung zwischen zwei verschiedenen Arten von sprachlicher Norm ein: Usus und Kodex. Während ein Kodex die durch Regelwerke standardisierte Variante einer Sprache darstellt, bezieht sich der Usus auf den tatsächlichen Sprachgebrauch einer Sprecher:innengemeinschaft, der in manchen Fällen durchaus vom Kodex abweichen kann. Di Venanzio und Olfert nennen hier etwa als Beispiel den Ausdruck die ganzen Menschen, der zwar nach der Norm des Usus als gebräuchlich zu beurteilen ist, in Kodizes wie dem Duden aber als nicht korrekt markiert wird, die Variante alle Menschen dagegen als richtig.
Ausgehend von der Zweiteilung des Normbegriffs in Kodex und Usus skizzieren Di Venanzio und Olfert dann einige Probleme bzw. Besonderheiten, die sich hinsichtlich der Beurteilung der Sprachkompetenz von Mehrsprachigen ergeben. Sie weisen zunächst darauf hin, dass die Äußerungen von mehrsprachigen Personen in der Umgebungssprache eventuell als fehlerhaft beurteilt werden, wenn sie Merkmale von Dialekten oder der Alltagssprache in der Umgebungssprache selbst beinhalten, die nicht Teil des Kodex, sondern "nur" des Usus sind – obwohl dies bei Einsprachigen als ganz normal wahrgenommen wird. Aber auch in ihren Herkunftssprachen werden die Kenntnisse mehrsprachiger Menschen mitunter aus einer defizitorientierten Perspektive betrachtet, sogar in der Sprachforschung. Der entsprechende Forschungsansatz geht Di Venanzio und Olfert zufolge davon aus, dass infolge von Migration in ein anderssprachiges Land Teile der erstsprachlichen Kompetenz verlorengehet, sodass die folgenden Generationen die jeweilige Herkunftssprache nur unvollständig erwerben. Sie merken allerdings an, dass dieser Ansatz stark kritisiert wurde, weil er die unterschiedlichen Erwerbsbedingungen von Ein- und Mehrsprachigen vernachlässigt: Mehrsprachige erwerben ja ihre Herkunftssprache meist hauptsächlich im Familienalltag, sie kommen also hauptsächlich mit dem Usus in Kontakt, während Einsprachige im Herkunftsland beispielweise in der Schule auch die am Kodex orientierte Sprache erlernen.
Im Gegensatz dazu nimmt ein anderer Forschungsansatz, den Di Venanzio und Olfert vorstellen, nicht die Einsprachigen im Herkunftsland als Maßstab, sondern geht unter Berücksichtigung der grundsätzlich anderen Erwerbssituation von Herkunftssprachensprecher:innen davon aus, dass diese eine eigene Form der Sprache entwickeln bzw. erwerben, eine sogenannte Kontaktvarietät. Di Venanzio erklärt, dass Kontaktvarietäten von Sprachtransfer betroffen sein können, dass also Eigenschaften aus der Umgebungssprache gegebenenfalls in die Herkunftssprache übertragen werden: Dabei können Strukturen der Herkunftssprache vereinfacht oder auch komplexifiziert werden. Werden solche Veränderungen an die folgenden Generationen weitergegeben, spricht man von Sprachwandel.
Was bedeuten diese Einsichten in den sprachwissenschaftlichen Diskurs um Mehrsprachige bzw. Herkunftssprachen nun für den Familienalltag und für Bildungseinrichtungen? Di Venanzio und Olfert setzen sich zu Beginn ihres Beitrags das Ziel, sich kritisch mit den Konzepten von sprachlicher Norm bzw. sprachlichem Standard auseinanderzusetzen. Diese Bereitschaft, die eigenen Vorstellungen von guter bzw. richtiger Sprache zu hinterfragen, kann sowohl für Eltern mehrsprachiger Kinder als auch für alle, die beruflich pädagogisch tätig sind, bereichernd sein. Besonders der zuletzt vorgestellte Forschungsansatz kann wichtige Impulse zu einer konstruktiven Auseinandersetzung mit Mehrsprachigkeit und Herkunftssprachen liefern: Er kann Herkunftssprachensprecher:innen (und ihre Eltern) daran erinnern, sich (bzw. ihre Kinder) nicht als defizitäre Sprecher:innen ihrer Herkunftssprachen, sondern als kompetente Sprecher:innen einer neu entstehenden Sprachvarietät zu sehen. Außerdem kann er Lehrkräfte darauf aufmerksam, dass Sprache nicht immer das ist, was Kodex-Normen vorgeben. Auf der anderen Seite ist kaum abzustreiten, dass zur idealen Ausschöpfung der Ressource der Mehrsprachigkeit auch der Erwerb der Kodex-Normen einer Herkunftssprache ein entscheidender Schritt ist: Erwirbt man diese, erweitern sich beispielsweise die Möglichkeiten, in bzw. in Kontakt mit der Gesellschaft des jeweiligen Herkunftslands beruflich tätig zu sein. Die Förderung von Herkunftssprachen an Bildungseinrichtungen sollte deshalb die verschiedenen Sprachregister berücksichtigen, von alltagssprachlichen bis zu formalsprachlichen Formen.
Was meinen Sie?
Zum Abschluss sind Sie gefragt: Was ist aus Ihrer Sicht gute bzw. richtige Sprache? An welchen Normen orientieren Sie sich? Wäre es Ihrer Meinung nach sinnvoll, Kodizes (ähnlich wie z.B. den Duden) für Kontaktvarietäten zu verfassen? Und an alle Eltern mehrsprachiger Kinder: Achten Sie bewusst auf bestimmte Aspekte, wenn Sie Ihre Erstsprache(n) an Ihre Kinder weitergeben bzw. mit ihnen sprechen? Auf welche?
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Zum Weiterlesen
[Zum Konzept der Standardsprache]
Ammon, U. (2005). Standard und Variation: Norm, Autorität, Legitimation. In L. M. Eichinger & W. Kallmeyer (Eds.), Standardvariation. Wieviel Variation verträgt die deutsche Sprache? (pp. 28-40). Berlin, New York: De Gruyter.
Zu Effekten und Einstellungen der Beteiligten
Verfasst von David Mathieu, B.A.
Diskutierter Beitrag:
Brehmer, B. & Mehlhorn, G. (2018). Unterricht in den Herkunftssprachen Russisch und Polnisch – Einstellungen und Effekte. In G. Mehlhorn & B. Brehmer (Eds.), Potenziale von Herkunftssprachen. Sprachliche und außersprachliche Faktoren. Forum Sprachlehrforschung, Bd. 14 (pp. 259-292). Tübingen: Stauffenburg.
Im Rahmen dieser Beitragsreihe („Mehrsprachig leben und lernen“) wurde ausgehend von den besprochenen Studien und Fachartikeln mehrmals dafür argumentiert, dass eine (umfassendere) Berücksichtigung von Familiensprachen im Bildungswesen lohnens-wert scheint (zuletzt etwa in Beitrag 05.). Aber wie stehen eigentlich die unmittelbar an einem entsprechenden Unterricht Beteiligten bzw. Interessierten – mehrsprachige Familien und Lehrkräfte – dazu? Und wie wirkungsvoll ist ein solcher Unterricht tatsächlich? Diesen beiden Fragen widmet sich eine Studie von Bernhard Brehmer und Grit Mehlhorn (2018), die im Folgenden vorgestellt und kommentiert wird.
Brehmer und Mehlhorn untersuchten die Einstellungen zum herkunftssprachlichen Unterricht (HSU) bzw. zum Erstpsrachenunterricht (ESU), der in verschiedenen Formen, jedoch meist als Zusatzangebot neben dem "normalen" einsprachigen Schulalltag angeboten wird. In Berlin, Hamburg und Leipzig führten sie mit insgesamt 49 Jugendlichen mit u.a. der Familiensprache Russisch oder Polnisch und ihren Eltern sowie mit 15 HSU/ESU-Lehrkräften Interviews und setzten zusätzlich Fragebögen ein. Um die Effekte des HSU/ESU einschätzen zu können, wurden außerdem die sprachlichen Fähigkeiten der Jugendlichen in verschiedenen Bereichen der Familiensprache mithilfe von Sprachtests gemessen. In den Interviews berichteten die meisten der befragten Eltern und Kinder, dass sie den HSU/ESU positiv sehen. Konkret teilten sie unter anderem mit, dass sie bei ihren Kindern (bzw. die Kinder bei sich selbst) sprachliche Fortschritte beobachten konnten. Auch aus der Sicht der Lehrkräfte ist der HSU/ESU sinnvoll und geht über die Sprachvermittlung hinaus, die Eltern zu Hause in der Familiensprache leisten können. Als negative Aspekte wurden von Eltern und Jugendlichen vor allem Zeitaufwand und Mehrbelastung beklagt, weil der HSU/ESU außerhalb der allgemeinen Schulzeiten erfolgt, sowie Unterforderung bzw. mangelnde Qualität, vor allem aber nicht direkt im Kontext des HSU/ESU, sondern wenn die Jugendlichen am Fremdsprachenunterricht für ihre Familiensprache teilnehmen, den auch die einsprachigen Schüler:innen im Rahmen des Standard-Curriculums besuchen.
Die Auswertung der Tests in den Herkunftssprachen zeigte, dass die Jugendlichen mit HSU/ESU vor allem beim Schreiben in der Familiensprache besser abschnitten als diejenigen, die keinen HSU/ESU besuchten. Erstere produzierten längere Texte und machten weniger Rechtschreibfehler. Auch der Wortschatztest fiel bei denjenigen mit HSU/ESU besser aus. Keine nennenswerten Unterschiede ergaben sich dagegen bei den Fähigkeiten des Lese- und Hörverstehens.
Was bedeuten diese Ergebnisse nun für mehrsprachige Familien und für das Bildungswesen? Alle unmittelbar am HSU/ESU beteiligten bzw. interessierten Gruppen aus der Studie – Eltern, Kinder und Lehrkräfte – sind sich darüber einig, dass der HSU/ESU sinnvoll und bereichernd ist. Die angesprochenen negativen Aspekte – insbesondere die Zusatz-belastung – scheinen sich vor allem dadurch zu ergeben, dass die Familiensprachen bzw. der HSU/ESU eben noch nicht ausreichend an Schulen verankert ist, sondern meist als zusätzliches Angebot oder Projekt unter enormem Zeitaufwand der herkunftssprachlichen Familien verfolgt werden muss. Eine feste Verankerung des HSU/ESU in den Curricula scheint insofern umso sinnvoller, als die Ergebnisse der Studie von Brehmer und Mehlhorn (2018) die Effektivität des Unterrichts nahelegen, besonders in Bezug auf die schriftsprachlichen Fähigkeiten: die Fähigkeiten also, welche den Eltern und Jugendlichen in der Studie im Hinblick auf den HSU/ESU besonders am Herzen lagen.
Was meinen Sie?
Zum Abschluss sind Sie gefragt: An alle mehrsprachige Eltern und Jugendlichen: Besuchst du/Besucht Ihr Kind eine Form von HSU/ESU? Warum bzw. warum nicht? Und an alle Lehrkräfte einer Form von HSU/ESU: Welche Vorteile und Herausforderungen sehen Sie im HSU/ESU? Wie könnte/sollte man einen idealen HSU/ESU aus Ihrer Sicht an Schulen umsetzen?
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Zum Weiterlesen
[Zu Effekten des HSUs auf herkunftssprachliche Fertigkeiten]
Caprez-Krompàk, E. (2010): Entwicklung der Erst- und Zweitsprache im interkulturellen Kontext. Eine empirische Untersuchung über den Einfluss des Unterrichts in heimatlicher Sprache und Kultur (HSK) auf die Sprachentwicklung. Münster, New York: Waxmann.
Zu heterogener Sprachkompetenz im Sprachunterricht
Verfasst von David Mathieu, B.A.
Diskutierter Beitrag:
Olfert, H. (2022). Sprachlich heterogene Lerngruppen in Fremd- und Herkunftssprachenkursen an universitären Sprachenzentren. Differenzierungsanforderungen aus der Sicht von Dozent*innen. Zeitschrift für Interkulturellen Fremdsprachenunterricht, 27 (2), 103–123. https://doi.org/10.48694/zif.3500
Infolge von Migration gibt es Deutschland immer mehr Familien, in denen die Eltern eine oder mehrere andere Erstsprachen als Deutsch sprechen, welche die Kinder dann als Familiensprachen erwerben. Sowohl in Unterrichtsformen, die sich speziell an solche mehrsprachige Sprecher:innen richten, als auch vor allem im Fremdsprachenunterricht, dessen Zielgruppe in erster Linie die „Mehrheitsbevölkerung“ – d.h. Sprachlernende ohne entsprechende Vorkenntnisse und familiäre Bezüge zur jeweiligen Sprache – ist, ergibt sich dabei mit hoher Wahrscheinlichkeit die Situation, dass die einzelnen Mitglieder einer Lerngruppe über ganz unterschiedliche Sprachkompetenzen verfügen. Wie gehen aber Lehrkräfte mit solch heterogenen Gruppen um? Wie schätzen sie diese Situation ein? Mit diesen Fragen beschäftigt sich die im Folgenden diskutierte Studie von Helena Olfert (2022).
Olfert führte Interviews mit insgesamt fünf Dozierenden, die zum Zeitpunkt der Studie an universitären Sprachenzentren Sprachkurse für Studierende anboten, und zwar entweder separat als Fremdsprachen- und Herkunftssprachenunterricht oder lediglich als Fremdsprachenkurse. Allerdings nahmen auch im letzteren Fall Sprecher:innen am Unterricht teil, die die Sprachen als Herkunftssprache/Familiensprachen hatten. Die Lehrkräfte unterrichteten jeweils entweder Arabisch, Polnisch, Russisch oder Türkisch. In den Interviews zeigte sich die Tendenz, dass sie bei der Beurteilung der Sprachkompetenz der Sprecher:innen dieser Familiensprachen einen Maßstab verwendeten, der sich an der (Standard-)Sprache monolingual im Herkunftsland aufgewachsener Menschen orientiert (zur Problematik dieser Denkweise siehe z.B. die Beiträge 05. und 06.). Dementsprechend sahen sie beispielsweise Einflüsse von Dialekten, welche die Sprecher:innen ggf. zu Hause mit ihren Eltern verwenden, als sprachliche Defizite bzw. Fehler. Insgesamt schätzten die Lehrkräfte die sprachlichen Fähigkeiten der Sprecher:innen in der jeweils unterrichteten Sprache als sehr heterogen ein, gingen aber nach eigenen Angaben in Herkunftssprachenkursen nur insofern darauf ein, als sie fortgeschritteneren Sprecher:innen mehr (und nicht schwierigeres) Aufgabenmaterial bereitstellten, oder als besonders leistungsschwach eingeschätzte Sprecher:innen in die Fremdsprachenkurse schickten. Als besonders schwierige Herausforderung bzw. Problem bei Herkunftssprachensprecher:innen sahen die Lehrkräfte eine vermeintlich große Kluft zwischen hoher mündlicher und niedriger schriftsprachlicher Kompetenz. Außerdem stellten in den Augen vieler Dozierender die Herkunftssprachensprecher:innen einen Störfaktor im Fremdsprachenunterricht dar, wo sie gemeinsam mit anderen Lernenden unterrichtet werden: Dort sollten sie sich zurückhalten oder allenfalls leistungsschwache Fremdsprachenlernende unterstützen. Trotzdem gab es in der Studie auch Dozierende, die den Herkunftssprachensprecher:innen gegenüber positiver eingestellt waren: sie sahen die mündlichen, von der Standard-sprache abweichenden dialektalen Varietäten aus den Familien explizit als Bereicherung, welche sie nach eigenen Aussagen in ihrem Unterricht berücksichtigten.
Was bedeuten diese Studienergebnisse nun für mehrsprachige Familien, für Bildungsinstitutionen und für Lehrkräfte des herkunftssprachlichen Unterrichts? Insgesamt scheint ein universitärer Sprachunterricht, wie er von den meisten der Lehrkräfte aus der Studie geschildert wurde, den Herkunftssprachensprecher:innen kaum gerecht zu werden. Es ist daher notwendig, spezifische Unterrichtskonzepte für den herkunftssprachlichen Unterricht bzw. für den gemeinsamen Unterricht von allen Lernenden zu entwickeln. Des Weiteren benötigen Lehrkräfte des HSU, wie es auch Olfert fordert, „mehr Wissen um mehrsprachigen Spracherwerb“ (S. 119) sowie das Bewusstsein, dass eine defizitorientierte Perspektive auf die sprachlichen Fähigkeiten der Herkunftssprachensprecher:innen nicht zielführend ist. Zudem wäre es sinnvoll, den herkunftssprachlichen Unterricht schon früher im Bildungssystem – an den verschiedenen Schularten – institutionell zu verankern. Und bevor das geschieht, kann mehrsprachigen Familien lediglich geraten werden, sich aktiv nach herkunftssprachlichen Unterrichtsangeboten umzusehen und sich dafür einzusetzen.
Was meinen Sie?
Zum Abschluss sind Sie gefragt: Was wünschen Sie sich von herkunftssprachlichem Unterricht? Welche Erfahrungen haben Sie damit gemacht? Sollten Herkunftssprachensprecher und Fremdsprachenlernende gemeinsam lernen bzw. unterrichtet werden? Warum (nicht)?
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Zum Weiterlesen
[Zum gemeinsamen High-School-Unterricht von HS-Sprecher:innen und Fremdsprachenlernenden in den USA]
Randolph, L. J. (2017): Heritage Language Learners in Mixed Spanish Classes: Subtractive Practices and Perceptions of High School Spanish Teachers. Hispania, 100 (2), 274–288. https://www.jstor.org/stable/26387779