Seminarsituationen

Hier finden Sie exemplarische Lektüren literarischer und theoretischer Texte, wie sie am Münchner Institut für AVL durchgeführt werden. Die einzelnen Beispiele stellen keine Prüfungsfragen dar, sondern sollen Sie mit den verschiedenen Fragestellungen vertraut machen, die Ihnen in unseren Seminaren begegnen können.

Virginia Woolf: Mrs. Dalloway

"He was not afraid. At every moment Nature signified by some laughing hint like that gold spot which went round the wall — there, there, there — her determination to show, by brandishing her plumes, shaking her tresses, flinging her mantle this way and that, beautifully, always beautifully, and standing close up to breathe through her hollowed hands Shakespeare’s words, her meaning.

Rezia, sitting at the table twisting a hat in her hands, watched him; saw him smiling. He was happy then. But she could not bear to see him smiling. It was not marriage; it was not being one’s husband to look strange like that, always to be starting, laughing, sitting hour after hour silent, or clutching her and telling her to write. The table drawer was full of those writings; about war; about Shakespeare; about great discoveries; how there is no death. Lately he had become excited suddenly for no reason (and both Dr. Holmes and Sir William Bradshaw said excitement was the worst thing for him), and waved his hands and cried out that he knew the truth! He knew everything! That man, his friend who was killed, Evans, had come, he said. He was singing behind the screen. She wrote it down just as he spoke it. Some things were very beautiful; others sheer nonsense. And he was always stopping in the middle, changing his mind; wanting to add something; hearing something new; listening with his hand up."

Virginia Woolf: Mrs Dalloway [1925]. London: Penguin 1995, S. 154.

Mögliche Fragen und Antworten:

In der literaturwissenschaftlichen Betrachtung von Texten werden Sie immer wieder auf Fragestellungen stoßen, die sich im weitesten Sinne mit dem selbstreflexiven Potential von Literatur beschäftigen. Dabei geht es im wesentlichen um die Frage, inwiefern literarische Texte über ihre eigene Gemachtheit – ihre eigene Bedeutsamkeit – nachdenken. Dieses Reflexionspotential von Literatur ist eine ihrer wichtigsten Eigenschaften und lässt sich u.a. unter dem Stichwort der Literarizität fassen.

In der Passage aus Mrs Dalloway sieht die Figur Septimus Smith („he“) überall Bedeutung. Diese empfindet er nicht nur als wichtig und wahr, sondern auch als ästhetisch herausragend („beautifully, always beautifully“). Der Bezug auf Shakespeare verdeutlicht, inwiefern im Erleben der Figur innere und äußere Welt, Wirklichkeit und Textualität verschwimmen. Septimus interpretiert seine Umwelt wie einen literarischen Text und generiert aus diesen Interpretationen neue Textmengen.

In der literaturwissenschaftlichen Betrachtung von Texten geht es nicht darum, über die Gefühle und Motive von Figuren zu spekulieren. Diese Figuren sind schließlich keine richtigen Menschen, sondern Konstrukte des Textes. Alles, was wir über sie wissen können, ist bereits in dem jeweiligen Text enthalten. Das heißt aber nicht, dass wir in einer Analyse eines Romans nicht auch andere Texte zur Erhellung bestimmter Fragestellungen hinzuziehen können. Ein möglicher Ansatz hierfür ist die Diskursanalyse. Dabei wird z.B. danach gefragt, welche historischen Wissensbestände in einem Text abgelagert sind. Über die Erarbeitung eines solchen Wissenskontextes können wir einen weiteren Zugang zu einem Text erlangen.

Für die genauere Betrachtung dieses Abschnittes wäre es z.B. sinnvoll, psychiatrisches Fachwissen der 1920er Jahre zu erarbeiten. In der Beschreibung des Zustandes von Septimus sind Hinweise auf Paranoia und auf Halluzinationen vorhanden. Wir wissen, dass Septimus im Krieg war, wo sein Freund Evans getötet wurde („his friend who was killed, Evans“) und können aus diesem Kontext erarbeiten, dass er unter einem Kriegstrauma leidet und dass dieses mit einer bestimmten Symptomatik einhergeht.

Im Laufe des Studiums der AVL werden Sie mit einer Vielzahl von Texten in Berührung kommen, die sich wechselseitig befruchten und erhellen können. Ein Ziel des Studiums ist es, Sie dazu in die Lage zu versetzen, eigenständig und kreativ Querverbindungen herzustellen und sinnvolle (zuweilen auch kontraintuitive!) Textpaarungen zu generieren. Es geht im Studium der AVL daher nicht darum, Autoren und Gattungen auswendig zu lernen, sondern darum, dass Sie sich ein Ihrem Interesse angepasstes Wissen aneignen, mit dem Sie selbstständig umgehen können und das Sie dazu befähigt, eigene Fragestellungen zu entwickeln.

Diesem Abschnitt ließe sich beispielsweise der Text Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken von Daniel Paul Schreber zur Seite stellen. So finden sich einige mögliche motivische Verknüpfungen in der Darstellung der Bedeutsamkeit der Natur über die Sonnenflecken („that gold spot“) sowie der Sexualisierung der Sonne mit Schrebers Ausführungen zur Sonne und den „Gottesstrahlen“. Über die gemeinsame Lektüre dieser beiden Texte wären Sie dann in der Lage, eine neue, eigene These zu formulieren.

George Perec: La disparition

"[…] il y aurait, dans un pays lointain, un garçon, un bambin au nom d'Aignan. Il aurait cinq ans. Il vivrait dans un palais où tout irait à l'abandon. Un jour, sa nounou lui disait:
– Jadis, tu avais ici vingt-cinq cousins. Alors nous vivions dans la paix. Mais, un à un, ils ont tous disparu, l'on n'a jamais su pourquoi. Aujourd'hui, tu dois partir à ton tour, sinon nous allons tous à la mort.
Alors Aignan fuyait. Suivant la tradition du plus pur Bildungsroman, la narration s'ouvrait par un court fabliau moral: au sortir d'un layon, un Sphinx assaillait Aignan. […] Il saisit un luth, prit son inspiration, puis, s'accompagnant, chanta:

Y-a-t-il un animal
Qui ait un corps fait d'un rond pas tout à fait clos
Finissant par un trait plutôt droit?

– Moi! Moi! cria alors Aignan.
L'animal biscornu prit un air assombri.
– Tu crois?
–Mais oui, dit Aignan.
– Alors tu doit avoir raison, fit l'animal d'un ton chagrin.
Un long instant, aucun n'ajouta un mot. L'Aquilon soufflait dans l'azur tarlatan.
– J'avais toujours dit qu'un gamin m'allait un jour abasourdir, soupira, plaintif, l'animal. […]
– Fais donc un saut dans l'à-pic, vilain Sphinx.
– Oh, murmura l'animal, mais tu voudrais ma mort!
– That's right! hurla tout à coup Aignan sans trop savoir pourquoi il utilisait l'anglais."

Perec, Georges, La disparition, Paris: Gallimard, 1969, 43f

Übersetzung

"[…] in Afrika, so fängt das Opus an, wohnt n' Bubi, n' Bambino, fünfjährig, und das ist Aignan. Wohnt dort im Palast und hat, was man will. Dann sagt Aignans Mama zu ihm: „Vorm Jahr noch wart ihr fünfundzwanzig Cousins. Damals wars im Land und im Palast noch schön ruhig, stabil und windstill. Doch damit wars dann plötzlich aus: Cousin um Cousin kam fort, warum, davon sprach man nicht. Und nun mußt auch du fort, sonst kommt für uns all Mord und Totschlag.“ Darauf floh Aignan. Was nun folgt, hat was vom Bildungsroman, und fängt an mit Moral und Schickal und so: kaum nämlich trat Aignan ausm Urwald, sprang'n Sphinxmann ihn an. […] Das Monstrum griff zur Lyra, dacht nach und sang dann:

Da war mal so'n Ding
Mit Korpus fast als Ring nur nicht ganz zu
Und schloß mit Strich wo grad war ab?

„Ich! Ich! ruft Aignan laut.
Das zwohhornig Monstrum schaut traurig.
„Glaubst du?“
„Na klar“, sagt Aignan.
„Dann stimmst wohl“, macht das Monstrum unglücklich.
Lang wars still um Aignan und das Monstrum. 'N Habicht pfiff im Azur.
„Ich wußt schon lang und sagts auch ständig, daß so'n Bub mir mal Unglück bringt“, klagt darauf das Spinx-Monstrum und sinnt vor sich hin. […]
„Spring 'n Hang hinab, Sphinx, ins Loch“, gab Aignan das Kommando.
„Oh“, stöhnt das Monstrum, „du willst mich also tot?“
„That's right!“ brüllt Aignan plötzlich und fragt sich sofort darauf: warum nur sprach ich britisch?"

Perec, Georges, Anton Voyls Fortgang, übers. v. Eugen Helmlé, Frankfurt
am Main: Zweitauseneins, 1986, 45ff

Mögliche Fragen und Antworten

Es fehlt der Buchstabe ‚e‘. Kein einziges Mal wird dieser häufige Vokal in Georges Perecs Roman La disparition verwendet. Das konsequente Auslassen eines Buchstabens ist ein sehr altes poetisches Verfahren, das schon in der Antike praktiziert wurde. Man bezeichnet die aus dieser Schreibpraxis entstehenden Texte als Lipogramme: ‚Leípein‘ heißt ‚weglassen‘, ‚gramma‘ bedeutet ‚Buchstabe‘. Nach einer Hochphase im Barock wurden immer seltener Lipogramme geschrieben. Was hat also den Autor Georges Perec im Jahr 1969 dazu bewegt, gleich einen ganzen Roman als Lipogramm zu schreiben? Perec war Mitglied eines Künstlerkollektivs, das den Namen Oulipo trägt. Oulipo steht für: Ouvroir de littérature potentielle, auf deutsch: Werkstatt für potentielle Literatur. Das Ziel der Oulipoten ist es, das Potenzial sprachlicher Ausdrucksformen so weit wie möglich auszuschöpfen. Dabei setzten sie nicht auf ihre künstlerische Inspiration, sondern auf die Sprache selbst. Formale Einschränkungen, wie zum Beispiel das Weglassen eines Buchstabens, sollen den Schriftsteller zu Formulierungen zwingen, die ihm normalerweise nicht in den Sinn kämen.

Im Fall von La disparition ist dies vorbildhaft gelungen. Der Roman erzählt eine verschlungenen Kriminalgeschichte, deren komplizierten Verzweigungen sich nicht zuletzt aus der lipogrammatisch erzwungenen Lexik ergeben. In der vorliegenden Textpassage fallen vor allem altertümliche, nicht mehr gebräuchliche Ausdrücke wie „fabliau“ anstelle von ‚histoire‘ bzw. ‚fable‘ oder „layon“ anstelle von ‚chemin‘ auf. Es haben sich durch die lipogrammatische Methode auch fremdsprachige Wörter in den Text eingeschlichen. So tauchen im Text das deutsche Wort „Bildungsroman“ sowie der englische Satz „That's right!“ auf. Diese beiden Stellen sind für eine Interpretation besonders aufschlussreich: Das erste Wort ist ein literaturwissenschaftlicher Gattungsbegriff, der den Leser dazu anregt, über die Gattung von La disparition nachzudenken. Unmittelbar nachdem Aignan auf englisch „That's right!“ ausgerufen hat, fragt er sich, warum er englisch und nicht französisch spricht. Die fremdsprachigen Stellen markieren somit, dass hier etwas Ungewöhnliches in und mit der Sprache vorgeht.

Das Motiv der rätselstellenden Sphinx stammt aus dem antiken Mythos von König Ödipus. Um die Stadt Theben von Plagen zu befreien, muss das Rätsel einer Sphinx gelöst werden. Nur wenige wagen sich vor, da ein Scheitern mit dem sofortigen Tod bestraft wird. Ödipus ist mutig und traut sich. Er kommt von weither aus Korinth. Nachdem ihm das Orakel von Delphi prophezeite, er werde seinen Vater töten und mit seiner Mutter schlafen, verließ er sein Elternhaus und wanderte bis nach Theben. Ödipus weiß nicht, dass er bei Stiefeltern groß geworden ist und seine leiblichen Eltern der König und die Königin von Theben sind. La disparition ist mit dieser Geschichte über verschiedene Motive verbunden. Die ausgewählte Textpassage bezieht sich vor allem auf denjenigen Teil des Mythos, in dem Ödipus das Rätsel der Sphinx löst. Es lautet: „Es ist am Morgen vierfüßig, am Mittag zweifüßig, am Abend dreifüßig. Von allen Geschöpfen wechselt es allein mit der Zahl seiner Füße; aber eben wenn es die meisten Füße bewegt, sind Kraft und Schnelligkeit seiner Glieder ihm am geringsten.“ Ödipus gibt die richtige Antwort: „Der Mensch!“

In La disparition fragt die Sphinx nach etwas anderem, nämlich nach einem eigenartigen Körper, der rund ist, aber nicht ganz geschlossen und mit einem geraden Strich endet. Was könnte das sein? Der klein geschriebene Buchstabe ‚e‘! Die Sphinx provoziert also eine Abweichung von der lipogrammatischen Regel. Aignans Antwort „Moi!“ stimmt im Prinzip mit derjenigen des mythischen Ödipus überein, ist Aignan doch nichts anderes als ein Mensch. Wenn man an dieser Stelle weiterüberlegt, dann fällt einem möglicherweise noch ein anderer Text ein, auf den in La disparition angespielt wird: auf Freuds Theorie vom Ödipus-Komplex. Geht man diesen Anspielungen und Verbindungen nach, so wird sich deren zentrale Rolle für die Deutung des Textes zeigen. In der Literaturwissenschaft spricht man in diesem Zusammenhang von Intertextualität.

Das Übersetzen literarischer Texte bewegt sich immer zwischen zwei Polen: Entweder bleiben die Übersetzer so nah wie möglich am Originaltext oder sie dichten die Geschichte frei nach. Während im ersten Fall dem übersetzten Text eine sprachliche Fremdheit anhaftet, fällt im zweiten Fall gar nicht auf, dass es sich um eine Übersetzung handelt. Zwischen dieser Skylla und jener Charybdis muss jede Übersetzung hindurchsegeln. Bei der Übersetzung von La disparition kommt aber noch eine weitere Schwierigkeit hinzu. Der Übersetzer muss nicht nur die Geschichte und die charakteristische Ausdrucksweise übertragen, es wird von ihm auch gefordert, sich an die lipogrammatische Schreibmethode zu halten.

Der deutsche Übersetzer von La disparition, Eugen Helmlé, bezeichnet die lipogrammatische Beschränkung als ein „Sprachkorsett“, das bei der Übersetzungsarbeit zu einer „Zwangsjacke“ wird. Was im Französischen gut funktioniert, ist unter Umständen im Deutschen nicht möglich. So lässt sich für „nounou“ kein deutsches Äquivalent finden: ‚Kinderfrau‘, ‚Kindermädchen‘ ‚Tagesmutter‘ – jedes dieser Wörter beinhaltet mindestens ein ‚e‘. So übersetzt Helmlé ‚nounou‘ mit dem nur zu einem geringen Grad entsprechenden Wort ‚Mama‘. Das gleiche gilt auch für die Übersetzung des Rätsels, in dem „animal“ nicht mit ‚Tier‘, sondern mit „Ding“ übertragen ist. Eine immer wiederkehrende Schwierigkeit stellen die unbestimmten Artikel dar. Sie alle beinhalten ein oder zwei ‚e‘: ein, eine, einer, eines. Helmlé löst dieses Problem, indem er einen im Deutschen ungewöhnlich häufigen Gebrauch von Apostrophierungen macht: „n' Bubi, n' Bambino“, „so'n Ding“. Zudem improvisiert und umschreibt er auf sprachakrobatische Weise. So wird zum Beispiel: „Alors nous vivions dans la paix.“ übersetzt mit: „Damals wars im Land und im Palast noch schön ruhig, stabil und windstill.“ Zeichnet sich bereits der französische Originaltext durch ungewohnte Formulierungen aus, so potenziert sich bei der Übersetzung von La disparition die Fremdheit der Ausdrucksweise.

Sigmund Freud: Ein Brief an Martha Bernays

Uns liegt ein Brief vor, den Sigmund Freud am 8. Juli 1882 an seine Verlobte Martha Bernays geschrieben hat. Zuvor hatte Freud bereits die Umgangsformen kritisiert, die seine Verlobte in der Freundschaft zu anderen gepflegt hatte. Anschließend heißt es:

„Sieh es einmal anders, teures Mädchen. Die zärtlichen Formen mögen früher bedeutungslos gewesen sein, sie sind es jetzt nicht mehr, seitdem sie für uns das einzige Mittel sind, uns unsere Liebe auszudrücken. Alles, was Du mir Herzliches zu tun oder zu sagen gestattest, ist ja symbolisch; die Schmeichelnamen, die mir sonst zum Ekel wären, bedeuten uns eine unbegrenzte Hingebung und Entschlossenheit, einander alles zu opfern; der Kuß, den Du mir schenkst, sagt mir, dass Dein zarter Leib mir kein Geheimnis verbergen möchte; die armseligen Mittel, mit denen Menschen einander ihre freundliche Gesinnung bezeugen, sind auch die unseren, aber uns bedeuten sie mehr, die Kupfermünze hat Goldwert in unserem Verkehr. Weil dem so ist, wird auch die zärtliche Form aus dem Verkehre Liebender nie verschwinden, und wenn die Geliebte Stiefel und Sporen tragen, im Parlamente sitzen und auf dem Katheter vortragen sollte, nicht die völlige Gleichstellung beider Geschlechter wird an dieser Sitte etwas ändern. In der Freundschaft, wo dieser unermeßliche Hintergrund fehlt, hat der Verkehr seit jeher sich der Mode des Zeitalters angepaßt. Fritz schreibt, wie Werthers Zeitgenossen ‚mein Martchen’ und spricht von ‚unendlicher Liebe’; es gab steifere Zeiten, wo Madame und Monsieur und votre très humble serviteur genau die nämliche Innigkeit eines Verhältnisses ausdrücken konnten. Solche Überschwänglichkeit des Ausdrucks und der Gebärde, wie sie Fritz beliebt, mißfällt mir nun aus zwei Gründen. Zunächst an und für sich, weil es unserer Zeit mehr angemessen ist, mit den einfachsten Mitteln und dem geringsten Aufwand von Gefühlsregungen hauszuhalten, und dann, weil ich glaube, daß es auch Dir peinlich sein muß, wenn Du Dir bei denselben Worten und denselben Gebärden nicht dasselbe denken darfst. Es ist verwirrend, und der Mensch soll es nicht tun, dasselbe Wort, das ihm als Losung und als Heilwort dient, als Phrase zu gebrauchen, dieselbe Handlung einmal als eine gleichgültige, einmal als eine zauberkräftige zu verrichten. Etwas von dem Unwert des einen Mals teilt sich leicht den anderen mit und umgekehrt.“

Bernays, M. & Freud, S. 2011, Brautbriefe. Sei mein, wie ich mir’s denke, Bd. 1, hrsg. v. G. Fichtner, I. Grubbrich-Simitis, & A. Hirschmüller, Fischer, Frankfurt a.M., S. 173f.

Zunächst würde man vielleicht einfach antworten: Freud ist eifersüchtig. In einer literaturwissenschaftlichen Lektüre – und selbst in der eines Briefes – sollte jedoch nicht einfach über Gefühle gemutmaßt werden. Man würde so nicht nur voraussetzen, was sich im Text selbst nicht als solches artikuliert. Man würde sich damit auch einer möglichen Erkenntnis versperren, durch welche sprachlichen Formen und historischen Konventionen solche Gefühle je bedingt sind. In der zitierten Passage beschäftigen Freud unterschiedliche Umgangsformen, die er als „zärtliche Formen“ bezeichnet. Sie werden, so heißt es, in der postalischen Korrespondenz, im öffentlichen, aber auch im intimen Umgang gebraucht: Er spricht von „Schmeichelnamen“, von überschwänglichen Ausdrücken wie „Mein Martchen“ und „unendliche Liebe“, aber auch von „Gebärden“ und vom „Kuß“. Freud „mißfällt“, dass diese Zärtlichkeiten je nach Kontext unterschiedliche Bedeutungen annehmen können: „Dasselbe Wort“ kann zwischen ihm und seiner Verlobten Martha Bernays eine „unbegrenzte Hingebung“ bedeuten. In einer Begegnung oder Korrespondenz zwischen Freundinnen und Freunden vermag aber auch einfach eine „freundliche Gesinnung“ zum Ausdruck bringen. Wenn also Freud tatsächlich eifersüchtig sein sollte, so lässt sich dies zumindest in dieser Briefpassage auf eine sprachliche Ambivalenz dessen zurückführen, was „zärtliche Formen“ je nach Kontext bedeuten können. Freuds Verweis auf Goethes Die Leiden des jungen Werthers von 1774 macht zudem eines deutlich: Was im empfindsamen Freundschaftsdiskurs des 18. Jahrhunderts als Ton gepflegt wurde, hat zu Freuds Verlobungszeit Ende des 19. Jahrhunderts seine Selbstverständlichkeit verloren.

[Vertiefend ließe Freuds Behauptung, dass sich die Höflichkeitsformen den jeweiligen „Moden des Zeitalters“ anpassen, mit Blick auf Norbert Elias’ Studie Über den Prozess der Zivilisation von 1982 diskutieren, die sich unter anderem auch mit dem historischen Wandeln von Höflichkeitsformen beschäftigt.]

Freud vergleicht die „zärtlichen Formen“ mit Münzen, die zwischen den Menschen im Umlauf sind. „Worte“, „Gebärden“, „Schmeichelnamen“, ja die innerste „Gefühlsregungen“ hätten demzufolge stets eine allgemein verbindliche Prägung, mit der ein bestimmter „Wert“ zum Ausdruck gebrach werden soll. Hier verdeutlicht sich erneut, wie die Artikulation von „Gefühlsregungen“ von kulturell tradierten Formen abhängig ist. In der vorliegenden Passage scheint Freud dem Münzen-Vergleich so etwas wie eine Zeichentheorie zu unterlegen. Er unterscheidet dabei zwischen zwei unterschiedlichen „zärtlichen Formen“: Erstens eine Münze, die innerhalb der Freundschaft im Umlauf sei: Freud zufolge ist sie „bedeutungslos“, ihr Nominalwert entspricht dem Materialwert der Münze. Demnach würde etwa eine Begrüßungsformel in einem freundschaftlichen Brief nichts anderes als eben eine Begrüßung bedeuten. Zweitens eine Münze, die lediglich im „Verkehre Liebender“ im Umlauf sei: Ihr „Wert“ gehe über ihren Materialwert hinaus, die „Kupfermünze“ habe hier nicht Kupfer-, sondern „Goldwert“. Diese „symbolische Formen“ sollen Freud zufolge über die jeweilige Geste hinausgehen und eine „unbegrenzte Hingebung“ zum Ausdruck bringen. Mit jedem „zärtlichen“ Wort soll sich – so jedenfalls Freuds Hoffnung – immer auch die „Liebe“ zwischen den „Liebenden“ bestätigen. Da sich jedoch dieser Passage zufolge beide Münzen ein und dieselbe Form teilen, lässt sich nie mit Gewissheit entscheiden, wann man den Materialwert des Kupfers und wann den Nominalwert des Goldes, wann die „Gebärde“ und wann seine „symbolische Bedeutung“, wann man eine „Phrase“ und wann eine „Zauberformel“ in den Händen hält: „Etwas von dem Unwert des einen Mals teilt sich leicht den anderen mit und umgekehrt“.

[Freuds Vergleich ließe sich auf mit einem Blick auf Karl Marx’ Das Kapital von 1867 weiter befragen. Marx ist einer der ersten Ökonomen gewesen, der auf ein instabiles Verhältnis zwischen Kurantmünzen (Münzen, bei denen der Nominalwert dem Materialwert entspricht) und Scheidemünzen hingewiesen hat (Münzen, deren Nominalwert höher ist als der Materialwert). Vor diesem Hintergrund ließe sich etwa fragen, welcher Zusammenhang zwischen der Geschichte von Gefühlen und der Geschichte der Ökonomie besteht.]

Eines hat sich ja bereits in den vorausgehenden Überlegungen gezeigt: Statt diese Ambivalenz der Sprache zu akzeptieren, nimmt sie Freud zum Anlass, seine Verlobte Martha Bernays im Stil eines Frauenerziehers zurechtzuweisen. Es ließe sich auch diskutieren, inwieweit Freud einen impliziten Zusammenhang herstellt zwischen den sprachlichen Koseformen und der vermeintlichen Natur des weiblichen Geschlechts: Er spricht etwa nicht nur von „zärtlichen Formen“, sondern auch vom „zarten Leib“ seiner Verlobten. Auch seine Bemerkung, dass sich an den „Schmeichelnamen“ im „Verkehre Liebender“ selbst dann nichts ändern würde, wenn die „völlige Gleichstellung“ zwischen Mann und Frau erlangt wäre, weist nicht nur darauf hin, dass dieser Zustand noch aussteht, sondern impliziert auch, dass Freud die „zärtlichen Formen“ trotz der von ihm zugestandenen Möglichkeit eines sich wandelnden Frauenbilds einer wesentlichen Weiblichkeit zuzuschreiben scheint. Die feministische Literaturwissenschaftlerin Silvia Bovenschen hat bereits 1979 in Die imaginierte Weiblichkeit gezeigt, wie seit dem 17. Jahrhundert gesellige Umgangsformen zwischen den Geschlechtern zumeist als „natürlich“ weiblich gedachten wurden, die der Mann insbesondere im Liebeswerben zwischen den Geschlechtern“ als eine „kulturelle“ Technik zu erlernen habe. Vor diesem Hintergrund ließe sich etwa Freuds Bemerkung befragen, dass ihm die zärtlichen Kosewörter „sonst zum Ekel wären“, wenn sie nicht zur gegenseitigen Versicherung in der Liebe dienen würden.

Ein Gedicht Góngoras, zwei mögliche Übersetzungen und zwei Intertexte.

In dieser Beispielaufgabe finden Sie zunächst das unten stehende Gedicht Góngoras. Die Fragen weiter unten beziehen sich sowohl auf das Gedicht, als auch auf weitere Materialien, die Ihnen zum Vergleich mit angegeben sind. Dabei handelt es sich um geeignete Vergleichstexte (sog. Intertexte) und Übersetzungen, auf die sich die Fragen beziehen.

"Mientras por competir con tu cabello
oro bruñido al sol relumbra en vano;
mientras con menosprecio en medio el llano
mira tu blanca frente al lilio bello;

mientras a cada labio, por cogello,
siguen más ojos que al clavel temprano,
y mientras triunfa con desdén lozano
del luciente cristal tu gentil cuello;

goza cuello, cabello, labio y frente,
antes que lo que fue en tu edad dorada
oro, lilio, clavel, cristal luciente,

No sólo en plata o víola troncada
se vuelva, más tú y ello juntamente
en tierra, en humo, en polvo, en sombra, en nada."

Góngora y Argote, Luis de: Poemas de autoría segura, poemas de autenticidad probable, hg. von Antonio Carreira, Madrid: Turner, 20082.

Mögliche Fragen und Antworten

Grundlegend für jede Interpretation ist eine genaue Lektüre und Auseinandersetzung mit dem Primärtext, ggf. mit einer Übersetzung und einem Wörterbuch. Dafür muss man den Inhalt genauso wie die Form in den Blick nehmen. Auch wenn wir versuchen, beides zu trennen, ist das eigentlich unmöglich – denn wir können uns einen Inhalt, wie etwa hier die Beschreibung einer Frau, nicht jenseits einer spezifischen sprachlichen Fassung, wie etwa hier im Vergleich zur Natur, vorstellen und dennoch kann sich das Verhältnis von Form und Inhalt so sehr unterscheiden wie ein Paar Strümpfe, nebeneinander liegend oder zusammengerollt. Es gilt also die eigene Aufmerksamkeit für dasjenige zu schärfen, was und wie es gesagt ist. In Gedichten untersucht man dafür etwa die spezifische Redesituation (Wer spricht wie zu wem?) ebenso wie das Versmaß und die Syntax und deren Verbindungen zum Inhalt.

Auffällig ist, dass das gesamte Sonett aus einem Satz besteht, dessen syntaktische Wendung von ähnlich gebauten Nebensätzen („mientras que...“) zum Hauptsatz übergeht: einer Aufforderung („goza...“) in dem für die Form des Sonetts entscheidenden neunten Vers. Und genau hier wird auch etwas Wichtiges gesagt: Die Angesprochene wird zum Genuss ihrer zuvor gelobten Körperteile aufgefordert, ein Genuss, der womöglich das sprechende Ich miteinschließt. Syntaktisch und metrisch besonders auffällig ist auch der letzte Vers, die Aufzählung von zweisilbigen, jeweils auf -o bzw. -a endenden Nomen, und auch hier findet sich eine entscheidende Aussage: die Vorhersage oder Drohung, dass die bisher gelobte Schönheit der Frau vergehen wird. Wie schnell das gehen mag, das führt der Vers klanglich vor: Der Elfsilbler verschleift hier jeweils den Vokal des Wortendes und das folgende „en“. So beschleunigt das Gedicht auf sein Ende hin und unterstreicht damit klanglich das Tempo der Vergänglichkeit und die Eile der Hingabe.

Übersetzung Christian Heinrich Postel

Weil noch der Sonnen Gold mit allen Strahlen weichet
Dem ungemeinen Glantz auf deinem schönen Haar.
Weil noch vor deiner Stirn der Liljen Silber-Schaar
In blasser Furcht und Scham die weissen Segel streichet.
Weil noch das Sähnen nach den Nelcken sich nicht gleichet
Der brünstigen Belgier nach deiner Lippen Paar.
Ja weil dem Halse noch des Mamors blancke Wahr
Mit allem Schimmer nicht einmahl das Wasser reichet /
Laß Haare / Halß und Stirn und Mund gebrauchet sein /
Eh‘ das was in dem Lentz der Jugend war zu ehren
Vor Gold / vor Lilien / vor Nelcken / Mamorstein /
Sich wird in Silber-grau und braunen Veilgen kehren.
Ja eh‘ du selbst dich mit dem Hochmuth dieses Lichts
Verkehrst in Erde / Koht / Staub / Schatten / gar in Nichts.

aus: Gutzen, Dieter/ Rüdiger, Horst (Hrsg.): Epochen der deutschen Lyrik. Übersetzungen nach den Erstdrucken in zeitlicher Folge, Bd. 1, München: DTV 1977, S. 16.

Übersetzung von Susanne Lange

Solang sich will mit deinen Locken messen
das Gold und strahlt vergebens in der Sonne,
solang sich deine weiße Stirn im Stolze
die Lilie ansieht mitten auf dem Felde,

solang nur Augen deine Lippenkelche
noch lieber pflücken als die Nelkenknospen,
solange deinem stolzen Hals das Vorrecht
gebühre über des Kristalles Helle:

genieße Locken, Hals, Haar, Stirn und Lippe,
bevor, was einst in goldner Zeiten Licht
Kristall war, Nelke, Gold und Lilie,

nicht nur zu Silber oder Veilchen wird
verwandelt, nein, auch du und all die Dinge
zu Erd, zu Staub, zu Rauch, zu Schein, zu nichts.

aus: Anmerkungen zu Miguel de Cervantes‘ Don Quijote, übersetzt von Susanne Lange, München: Dtv 2011, S. 688.

Kommentar

Sie werden in der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft immer wieder mit Texten konfrontiert werden, deren Sprachen Sie nicht sehr gut beherrschen. Dann sind Wörterbücher, Grammatiken, Übersetzungen oder jemand, der die Sprache besser kann, gefragt. Es braucht Lust und Mühe, sich auch mit fremden Sprachen auseinander zu setzen. Dabei ist die Frage nach Übersetzungen und der Übersetzbarkeit auch eine wichtige theoretische Frage der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft. Die zunächst so selbstverständlich erscheinende Unterscheidung von Original und Übersetzung ist nicht so stabil, wie sie scheint. Góngoras Gedicht etwa könnte als Übertragung des untenstehenden Gedichts von Garcilaso verstanden werden. Und können auch die Übersetzungen den Status eines Originals bekommen? Was überhaupt heißt über-setzen? Von wo wohin wird sich hier bewegt? Wer bewegt was?

Walter Benjamin hat einmal geschrieben, dass „die Sprache der Übersetzung ihren Gehalt wie ein Königsmantel in weiten Falten“ umgibt. Damit wird die Übersetzung nobilitiert und ein Überschuss von Sprache in ihr suggeriert. Sie ist mehr als nur ein bloßes Kleid, sie ist ein Königsmantel. Deswegen lohnt es, sich mit Übersetzungen zu beschäftigen, wenn man nach dem Wesen der Sprache fragt.

Garcilaso Soneto XXIII

En tanto que de rosa y de azucena
se muestra la color en vuestro gesto,
y que vuestro mirar ardiente, honesto,
enciende al corazón y lo refrena;

y en tanto que el cabello, que en la vena
del oro se escogió, con vuelo presto
por el hermoso cuello blanco, enhiesto,
el viento mueve, esparce y desordena:

coged de vuestra alegre primavera
el dulce fruto antes que el tiempo airado
cubra de nieve la hermosa cumbre.

Marchitará la rosa el viento helado,
todo lo mudará la edad ligera
por no hacer mudanza en su costumbre.

Garcilaso de la Vega: Obras, hg. v. T. Navarro Tomás, Madrid: Castalia 1924.

Shakespeare Sonnets CXXX

My mistress’ eyes are nothing like the sun;
Coral is far more red than her lips red;
If snow be white, why then her breast are dun;
If hairs be wires, black wires grow on her head.
I have seen roses damask’d, red and white,
But no such roses see I in her cheeks;
And in some perfumes is there more delight
Than in the breath, that from my mistress reeks.
I love to hear her speak, yet well I know
That music hath a far more pleasing sound;
I grant I never saw a goddess go –
My mistress when walks treads on the ground.
And yet, by heaven, I think my love as rare
As any she belied with false compare.

Shakespeare, William: Tragedies and Poems, hg. v. Peter Alexander, London u. Glasgow: Collins, 1958 (=The Complete Works of Shakespeare in four Volumes, Bd. 4).

Kommentar

Unter ‚Petrarkismus’ versteht man die Nachahmung einer Gedichtsammlung von Francesco Petrarca, dem Canzoniere (1347). Die dort versammelten Liebesgedichte an Laura haben den vielleicht ersten großen europäischen literarische Trend ausgelöst: Zahlreiche Dichter in Italien, Spanien, Frankreich und England greifen die von Petrarca entworfene Liebessituation (ein Mann wirbt um eine schöne und unerreichbare Dame und beklagt sein Leid), Formen (insbesondere das Sonett) und eine spezifische Rhetorik auf (das Schwanken zwischen Glück und Leid prägt zahlreiche Paradoxa und Antithesen). Theoretisch steht damit die Frage im Raum, wie Texte aufeinander Bezug nehmen und gemeinsam interpretiert werden können (das kann man unter dem Stichwort der Intertextualität fassen), methodisch ist dringend ein Blick über einzelne Sprachgrenzen und Nationalphilologien hinaus nötig.

Während Garcilaso etwa die Schönheit der Dame mit der Natur vergleicht, überbietet bei Góngora die Schönheit der Dame die der Natur. Shakespeare dagegen konterkariert dieses topische Frauenlob. Dabei lenkt Shakespeares Gedicht auch die Aufmerksamkeit auf die Gender-Problematik des Petrarkismus: Es ist ein rein heterosexuelles Liebesmodell, laut dem Männer begehren und dichten und Frauen schön sind, sich zurückhalten und schweigen. Dieses Modell wird im Petrarkismus durchgespielt, aber auch vielfältig variiert und unterlaufen: etwa insofern eine Hingabe der Frau suggeriert wird (dazu fordert Góngora auf, andere machen dies und somit einen sexuellen Inhalt explizit); Shakespeare konfrontiert das Frauenbild des Petrarkismus mit einem „realistischeren“ Bild des Körpers einer Frau, und viele Dichterinnen des Petrarkismus, Louise Labé etwa, haben Wege gefunden, ihm eine weibliche literarische Sprecherposition einzuschreiben.